Tag 49 – Später Besuch

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  • Beitrag veröffentlicht:Dezember 22, 2018
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Gerade als sie das Wasser abgedreht und sich ausgezogen hatte, klopfte es an der Tür. Das war ungewöhnlich, weil bei ihr nie jemand unerwartet um diese Uhrzeit vor der Tür stand. Und weil auch nie jemand klopfte. Es gab einen Klingelknopf und selbst der wurde selten betätigt, weil die meisten ihrer Besucher von außen kamen und bereits an der Hauseinangstür klingelten. Und weil all das so ungewöhnlich war, weil der Tag schon so ungewöhnlich gewesen war, ignorierte sie das Klopfen nicht, sondern beschloss so wie sie war zu öffnen. Was wiederum auch sehr ungewöhnlich war, weil sie nichts anhatte, außer einem nun schnell übergeworfenen Bademantel.
Sie blickte nicht durch den Spion sondern öffnete sofort die Tür einen Spalt. Im trüben Licht der Stiegenhauslampe stand Jimmy. “Tschuldigung”, sagte er. “Ich weiß es is spät, ich wollte nicht mehr klingeln aber…” Er trat von einem Fuß auf den anderen, dass sie fast glaubte er müsse aufs Klo. Aber das befand sich drei Stockwerke unter ihr, das konnte nicht sein Problem sein.  Er bemerkte, dass sie ihn weiterhin nur fragend musterte. “Naja, ich wollte nur… also… Danke! Danke, dass Sie mich da vorhin quasi unterstützt haben. Also Sie wissen schon, weil ich ja doch so ein bisschen naja, wie soll ich sagen?” Er blickte sich um so als würde er schauen, ob ihm jemand lauschte. “Weil ich halt etwas vorlaut war. Ich wollte halt nicht, dass jemand die Polizei ruft.” flüsterte er.
Sie erinnerte sich sehr gut und auch an die unangenehme Situation, als sämtliche Nachbarn und Nachbarinnen sie angeschaut und erwartet hatten, dass sie nun Vorschläge bringen würde, wie man Klarheit in die Situation bringen würde. Und irgendwie war es ihr dann auch gelungen, die Lage zu entschärfen. Und allen zu sagen, es wäre doch besser, wenn alle erst einmal ankommen und sich erholen würden. Und dass man doch am nächsten Tag immer noch weiter schauen könnte. Als dann alle allmählich in ihre Wohnungen verschwunden waren, hatte auch sie sich eilig in ihre verzogen. Da hatte sie dann eine ganze lange Weile in die Dunkelheit gestarrt. Hatte all ihre vielen Bücher angestarrt  und festgestellt, dass es egal war, wie viel sie schon gelesen hatte, wie viel sie wusste. Jetzt, hier in dieser Situation, war sie dem Leben so hoffnungslos ausgeliefert, da halfen ihr all ihre vielen Bücher und die zwei Doktortitel überhaupt nichts. Da gab es nichts, wo sie nachschlagen konnte. Da gab es kein abgespeichertes Wissen, das sie anwenden konnte. Und so ungewöhnlich das eben alles gewesen war, so absurd war es auch, dass sie nun einfach die Tür ein Stück weiter aufzog und Jimmy in ihre Wohnung ließ. Er schlüpfte durch diesen Spalt wie eine erfrorene Katze und ging direkt weiter bis in die Küche. Dort blickte er sich um, bis sie ihm einen Stuhl anbot. Er setzte sich und zog aus purer Gewohnheit sein Tabakpäckchen aus der Hosentasche. Noch immer hatte sie kein Wort gesagt und auch jetzt nahm sie stumm den alten Aschenbecher vom Regal und stellte ihn vor Jimmy ab. Seit vier Jahren hatte in dieser Wohnung niemand mehr geraucht. Stattdessen hatte sie monatelang fluchend damit zugebracht, den Rauch, der so eng mit Michaels in jedem Winkel eingefressenem Geruch verstrickt gewesen war,  hinauszuwedeln. “Darf ich auch eine?” fragte sie und er erschrak ein wenig, weil ihre Stimme so eingefroren klang. Er nickte und machte sich daran, zwei Zigaretten zu drehen.
Sie schaute ihm dabei zu. Betrachtete seinen großen rauhen Hände. Bewunderte, wie solche Hände es schaffen konnten, so kleine zarte Zigaretten zu fabrizieren. Sie beobachtete diesen ganzen Mann, den sie schon so oft gesehen aber mit dem sie noch nie wirklich gesprochen hatte und der nun so nah und unwirklich vor ihr saß. Sie wusste nicht, was sie mit ihm reden sollte, hatte keine Ahnung, wie man solchen Menschen, die man bisher nur unsympathisch und abstoßend gefunden hatte, begegnen sollte. Und wunderte sich am allermeisten darüber, dass sie gerade in diesem Moment einfach nur froh war, dass er da und sie nicht allein war. Dabei war sie gut darin allein zu sein. Sie hatte das Alleinsein perfektioniert, war glücklich allein und zufrieden mit sich selbst. Und nun saß hier dieser Mann, den sie nicht kannte und nicht kennen wollte und bescherte ihr Wohlergehen. Er reichte ihr die Zigarette und als sie sich ein Stück zu ihm hinüber beugte, um sie von ihm angezündet zu bekommen, ließ ihr Bademantel einen kurzen Blick auf ihre Brüste zu. Er sah es und sie spürte es und es war nicht ganz klar, wer von beiden das anziehender fand.

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