Tag 78 – Rijola

Vor dem Haus in der Knesebeckstraße stand ein kleines Mädchen. Es trug ein rosaoranges Strickkleid und darunter ein sauber rein weißes langärmliges Shirt. Dazu eine weiße Strumpfhose und lila Sandalen. Sie hielt den Kopf in die Sonne und die rechte Hand auf ihrer Brust. Und weil sie länger so da stand mit der Hand auf ihrer Brust und nichts sagte und sich nicht bewegte, blieb jemand stehen und fragte sie, ob alles okay sei. Ob man ihre Eltern rufen solle oder ob sie etwas brauche. Da öffnete das Mädchen die Augen, ihre strahlend großen graublauen Augen und sagte mit leiser, aber bestimmter Stimme: “Rijola hat sich im Wald verlaufen. Sie hat dabei ihre silberne Kette verloren, an der der Schlüssel zum großen Tor hing. Dahinter wartet aber ihre nächste Aufgabe! Was soll sie jetzt nur tun?”
“Wer ist Rijola?” fragten die Leute. Es wurden immer mehr, die auf das Mädchen im rosa Strickkleid schauten.
“Ein Pferd.” sprach das Mädchen und schloss wieder die Augen.
“Dein Pferd?” fragten die Leute, ganz in den Bann gezogen von dem, was sie gehört hatten.
“Nein, es ist das Pferd von Amalia.”
“Und ist Amalia Deine Freundin?” fragte eine ältere Frau.
“Ja” flüsterte das Mädchen.
“Und wo ist Amalia jetzt?” fragte eine andere Frau.
“Sie ist auf der Suche nach Rijola.” sprach das Mädchen.
“Dem Pferd.” sagten die Frauen gleichzeitig. Froh über das, was sie wussten.
“Und wissen Amalias Eltern, wo sie ist?” fragte eine der Frauen.
Das Mädchen öffnete wieder ihre großen Augen. Sie schaute die Leute an, die um sie herum standen. Einzeln. Sie zog die Augenbrauen zusammen und schüttelte den Kopf:
“Es ist Mittwoch Nachmittag, 2018 in Pinkafeld. Amalia ist meine Freundin, die ihr nicht sehen könnt, weil ich sie erfunden habe. Rijola ist ihr Pferd, das noch erfundener ist. Ich bin 6 Jahre alt und wenn es okay ist, würde ich jetzt gern weiter spielen.”
Damit drehte sich das Mädchen um und setzte sich unter einen Baum.
Die Leute sahen sich an, zuckten mit den Schultern. Nur Kurt, der pensionierte Tischler, der die ganze Zeit stumm daneben gestanden hatte, rief: “Tief im Wald, im Astloch einer alten Eiche, liegt ein Ersatzschlüssel für das große Tor. Wenn Rijola es bis zur Dämmerung findet, kann sie es doch noch öffnen!”
Das Mädchen sah ihn an, lächelte erst und strahlte dann. Kurt zwinkerte ihr zu, lächelte ebenfalls und ging beschwingt an den älteren Frauen dabei, die ihn mit entsetzter Miene musterten.

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