Tag 93 – Der Frühling wird kommen

Sie schiebt den Kinderwagen in die volle U-Bahn und schaut nach rechts und links und hinter sich, bedacht darauf, dass ihre beiden anderen Kinder ihr folgen. Mit schweren Schuhen tritt sie auf die Bremse des Gefährtes, hält dennoch fest und stemmt sich dagegen, weil es während der kurvigen U-Bahnfahrt immer wieder loslässt und davonrollt. Die Kinder suchen sich jeder einen Platz. Ihr Sohn fragt, wieviele Stationen sie fahren werden und sie antwortet müde: “Viele.” Dann zählt sie auf dem Plan die Stationen ab, wackelt dabei mit der U-Bahn mit und hält den Kinderwagen fest im Griff. Der ganze Körper ist angespannt. Innen und außen. Und dann steigt die Frau mit den zwei Hunden ein. Eigentlich sind es halbe Kühe, riesengroß und ihr Sohn versinkt in seinem Sitz. Sie stellt sich schützend neben den Kinderwagen und die Kühe und spürt den Geruch von nassem Fell aufkommen. Auch das noch. Dabei wollte sie so gern einfach nur sitzen und die Augen schließen. Die Nacht war kurz, der Rücken schmerzt und der Kopf surrt. Sie schließt die Augen und atmet. Bis vier zählen und einatmen, bis vier zählen und die Luft anhalten, bis vier zählen und ausatmen, bis vier zählen und Luft anhalten. Box breathing nennt man das. Sie hat es inne, es beruhigt sie ein wenig, weil der Fokus auf die Atmung vom Rundherum ablenkt. So atmet sie ein paar Runden, den Griff weiter fest am Kinderwagen. Die U-Bahn stoppt. Sie zählt, atmet. Die U-Bahn rollt wieder los. Wo sind wir eigentlich, denkt sie und öffnet die Augen. Hinter ihr setzt sich ein Mann auf einen freigewordenen Platz. Hätte sie nicht geatmet, hätte sie dort sitzen können. Was muss der sich da jetzt hinsetzen? Verdammt. Sie schließt wieder die Augen und flucht. Die Kinder werden unruhig. “Wieviele Stationen noch?” Sie zählt im Kopf. “Drei.” sagt sie und überlegt, ob das viel oder wenig ist. Die U-Bahn rast über der Straße entlang. Wer nennt so etwas U-Bahn, was oben fährt? Egal. Endlich bremst sie an der Haltestelle ein, an der sie rausmüssen. Angekommen.
Draußen ist es kalt. Der Wind fegt durch den Wintertag. Sie marschiert los, die Kinder hinter ihr. Ihr Blick ist gesenkt. Ein kleines Stück grün inmitten der Großstadt. Zugefroren liegen die Grashalme im Eis. Schlafen. Schön sieht das aus, wie sie da still ruhen. So leise und sanft. Sie lächelt. Der Frühling wird kommen. Das Eis schmelzen. Die Grashalme aufstehen. So wie sie auch.

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