Greta lag verknotet auf ihrem Bett und schloss die Augen. Das Leinentuch hatte sie um sich herum gewickelt wie eine zweiter Haut. Sie betrachtete ihren Daumen und schob ihn langsam in ihren Mund. So, wie sie es als Kind getan hatte, wenn sie traurig war.

Er saß unten in der Küche über einem Eimer frisch gefangener Fische. Der Geruch von Meer und Fisch hing im ganzen Haus. Greta würgte. Der Daumen war zu groß geworden für ihren Mund. Der Streit mit ihrem Vater zu schwer für ihr Herz. Und der Gedanke an die toten Fische widerte sie an. Die Worte ihres Vaters hallten in ihrem Kopf. Ihr schweigendes Entsetzen darüber drückte schmerzhaft in ihrem Bauch. Sie zog die Beine noch näher an sich heran bis weit unters Kinn. Hielt das Leinentuch noch straffer und kniff die Augen noch fester zusammen. Sie schaltete die Welt da draußen aus, den Streit, ihren Schmerz. Das hatte sie nicht erwartet.
Das hatte auch er nicht erwartet. Er nahm einen Fisch aus dem Eimer, legte ihn auf das große Brett vor sich und schlug mit dem schweren Küchenmesser auf den Kopf. Der Fisch war längst tot, doch er schlug noch dreimal zu, bis das Auge tief im Fischkopf versunken war. Dann nahm er den Fisch am Schwanz und schleuderte ihn mit aller Kraft quer durch die Küche. Der klatschte an die Wand über dem Herd, hinterließ einen nassen Fleck und fiel zu Boden. Er fluchte, stand auf und ging hinüber zum Herd, suchte verzweifelt eine Möglichkeit das schwere Ding vom Fleck zu bewegen, so dass er dahinter gelangen konnte. Zu dem Fisch, der sonst vergammeln und stinken würde. Noch mehr stinken als das Haus. Sein Leben. Dieser Streit. Doch der Herd bewegte sich keinen Millimeter. Er fluchte. Er war wütend. Auf Greta. Auf sich und auf den verdammten Fisch hinter dem Herd. Mit der Faust schlug er auf die Herdplatte, stützte sich dann mit beiden Händen ab und ließ den Kopf hängen. „Scheiße verdammt.“ murmelte er.

„Verdammte scheiße.“ schluchzte Greta in ihr Kopfpolster. Dann wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und setzte sich auf. Ihre Schultern fielen wie schwere Säcke nach vorn und zogen an dem Stein in ihrer Brust wie eiserne Gewichte. Alles war schwer, sie fühlte sich wie ein Haufen Blei. Hedda tauchte immer wieder auf in ihrem Kopf. Ihr Lachen. Ihre glänzenden Augen. Die roten Locken. Ihr verträumter Blick. Doch der Blick verzerrte sich. Ihr Kopf verformte sich. Heddas Körper stand nun vor ihr und lachte sie mit einem verzogenen Kopf mit eingeschlagenen, versunkenen Fischaugen an. „Was ist?“ fragte sie, lachte laut auf, rief: „Komm!“ und verschwand. Greta erschrak und sprang auf. Sie musste noch einmal mit Vater reden. Wie oft hatte er gesagt, sie solle ihrem Herzen folgen. Das hatte sie getan und nun war er total ausgerastet. Und alles was blieb in ihrem Herzen war sein wütender Blick und eine Frau mit Fischkopf. Er musste akzeptieren, dass es echt war. Keine Phase. Kein Versehen. Echt und pur. Real und so unumstößlich wie der Geruch von Fisch in diesem Haus. Hedda war ihre Frau, ihr Leben, ihr Lieben. Und er musste das akzeptieren. Er musste.

„Ich muss.“ dachte er. „Ich muss das verhindern.“ Mit dem toten Fisch in der Hand lief er in der Küche auf und ab. Der Herd stand schräg. Mit der Kraft seiner Wut hatte er ihn verschoben, hatte den toten Fisch herausgeholt, ihn noch zweimal fallen lassen und dann fest geschnappt und gehalten und hielt ihn noch immer fest in seiner Hand.
Er dachte darüber nach alles hinzuschmeißen, seine Tochter zu schnappen und abzuhauen. Das Haus verkaufen, die Fischerei, die Boote. Alles hinter sich lassen und davonfahren. Ein neues Leben beginnen. So, wie er es schon damals hätte tun sollen. Dann wäre das alles nicht passiert. Dann wäre sie Hedda nie begegnet. Er starrte aus dem Fenster hinüber zur See. Betrachtete die Boote, wie sie auf den Wellen tanzten. Leicht und sorgenfrei.

Oben in ihrem Zimmer schaute Greta auf die gleichen Boote auf den gleichen Wellen tanzend. Sie hatte ihr Leinentuch noch immer um sich geschlungen. Die Tränen waren getrocknet und klebten wie Schuppen toter Fische auf ihrer Haut, brannten salzig. Einfach alles hinschmeißen. Hedda nehmen und abhauen. Was konnte er schon tun? Es war ihr Leben, ihr Weg. Mutter, dachte sie. Was Mutter wohl sagen würde. Sie schaute hinaus auf die See, so wie sie es oft tat, wenn sie an Mutter dachte. Als stünde sie da hinten auf dem Wasser wie ein wandelnder Geist. Auch sie wandelte. Mit dem Leinentuch um sich geschlungen ging sie durch ihr Zimmer und schwankte zwischen den zwei Seelen in ihrer Brust. Wollte beide packen und zusammenschnüren, wie einen gebrochen Knochen vergipsen, damit sie zusammenwachsen konnten. Sie brauchte Hedda und sie brauchte Vater. Und sie würde jetzt so lange auf ihn einreden, bis er verstehen würde und einlenken und all seine Wut und seinen Ärger hinter sich werfen wie die Eingeweide der toten Fische. Entschlossen öffnete sie die Zimmertür und stieg die steile Holztreppe hinunter.

Als sie die Küche betrat stand Vater noch immer mit dem toten Fisch in der Hand am Fenster. Er zuckte zusammen, als ihre viel zu sanfte Stimme viel zu leise zu ihm sprach. „Vater?“ Abrupt drehte er sich um, ertappt in seinen Gedanken rief er viel zu laut: „Was?“ Doch seine Stimme brach ab, er zitterte. Seine Reaktion brachte die Wut von vorher in ihre Brust zurück. Statt leise mit ihm zu reden, begann Greta nun wieder wütend zu schimpfen. „Ich will dass Du verstehst. Ich will, dass Du akzeptierst. Es ist mein Leben und Du kannst mir nicht vorschreiben, was ich tun oder was ich lassen soll. Ich bin kein toter Fisch, ich lebe und ich schwimme, frei und unbefangen!“ Seine Hand bebte. Er war ihr nicht gewachsen, ihrem Wüten, ihren funkelnden Augen, die den Geist ihrer Mutter in sich trugen. Er kannte sie so nicht. Und er spürte bebend und zitternd, dass sie nicht mehr das kleine Mädchen war, dass er beschützen musste. Vor der Welt, der Trauer, dem Leben. Und während sie weiter auf ihn einsprach, dabei mit den Armen wedelte, hinaus auf die Boote, hinüber zu den toten Fischen und hinauf irgendwo ins Nichts zu ihrer Mutter zeigte und ihm erklärte, dass sie all das satt hatte, dass sie nicht mehr länger hier und bei ihm sein konnte, wenn er sie nicht aus seinem stinkenden Fischernetz ließ, begriff er, dass sie bereit war für mehr als das Leben. Für die Wahrheit und den Schmerz. Da unterbrach er sie schroff und schrie: „Hör auf! Hör verdammt nochmal auf! Ich kann es nicht zulassen!“

„Aber warum?“ rief sie noch funkelnder „Warum verdammt?“
Er holte Luft. Noch mal. Und nochmal.
„Weil sie Deine Schwester ist.“ Dann ließ er den toten Fisch aus seiner Hand gleiten.

 


Juli 2016