Ein Zischen ertönt aus der Zapfanlage bevor das kalte Hefebräu ins Glas fließt, schäumt. Sie hält das Glas schräg, fast waagerecht, senkt es, je mehr es sich füllt und schaut dabei verloren an die Wand gegenüber der Bar. Nicht auf das Glas, nicht auf den Gast. Nur an die Wand. Durch die Wand hindurch. Kurz bevor das Glas überl.uft senkt sie den Zapfhahn, dann die Augen, stellt das Glas kurz auf die Metallabdeckung und dann zielsicher vor den Gast, der ihr die ganze Zeit beim Zapfen zugesehen hat. Sie schaut ihn nicht an, nimmt sein leeres Glas und taucht es in das warme, schaumige Spülbecken. Den Blick nun wieder an die Wand gerichtet, durch die Wand hindurch.

Punkt zwei legt sie ihre Schürze zusammengefaltet neben die Kasse hinter der Bar und eilt durch die Hintertür aus dem Lokal. Ihr Schritt ist schnell, hastig, so dass ihre schulterlangen Haare ein wenig nach hinten wehen. Der kleine schmale Körper sitzt aufrecht auf den eilenden Beinen. Sie kennt den Weg, jeden Pflasterstein, jeden Laternenpfosten. Bei Regen weiß sie, wo sich das Wasser zu Pfützen versammelt, bei Sonne den schattigen Lauf. Sie weiß welches Gemüse in dem kleinen Lokal an der Ecke täglich im Angebot ist. Tomaten. Donnerstags ist Tomatentag. Heute ist Tomatentag. Sie mag keine Tomaten und sie mag Donnerstage nicht. Manchmal lächelt sie über diesen komischen Zufall. Heute eilt sie nur schnell amLaden vorbei. Vorbei am Winken der alten Dame hinter dem Fenster. Als sie in die Straße einbiegt, in der sie wohnt, zieht sie bereits das Schlüsselbund aus der Tasche, fischt den Haustürschlüssel hervor und steckt ihn zielsicher wenige Sekunden später in das Schloss der braunen Haustür in Nummer sechs. Es riecht nach Kohl. Mittags riecht es hinter der Tür mit der Nummer 11 oft nach Kohl. Sie mag Kohl und spürt ein wenig Hunger. Doch dafür ist keine Zeit. An der Wand rechts hängen Briefkästen und herabfallende Tapete. Nur wenige der Briefkästen haben Schlösser, die meisten sind aufgebogen und leer. Mit zitternden Händen steckt sie einen kleinen rostigen Schlüssel in einen der noch verschlossenen Blechkästen, rüttelt eine Weile. Dann springt die Tür auf und die blecherne Rückwand des Briefkastens grinst sie höhnisch an. Sie atmet schnell, schaut eine Weile in die Leere und sperrt dann den kleinen Kasten wieder zu. Vor ihrer Wohnungstür zieht sie ihre schwarzen Schuhe aus und stellt sie sorgfältig neben die Hausschuhe ihrer Tochter. Dann öffnet sie die Tür und schließt sie leise hinter sich. Sie möchte nicht, dass die Nachbarin sie hört und fragt, warum sie um diese Zeit schon zu Hause ist. Sie ist ja nicht zu Hause. Sie geht gleich wieder. Nur schnell schaut sie in der Schublade in der Küche nach dem blauen Ordner. Er liegt dort, wo sie ihn gestern mittag hingelegt hat. Keinen Millimeter verrückt. Darin sorgfältig geordnet der Visumantrag, die Tickets, die Reiseversicherung, ihr Paß, der Paß ihrer Tochter. Alles gültig, alles da genau so, wie es die Behörden wünschen. Die Liste der notwendigen Unterlagen des Konsulats hatte sie an die Wunschliste ihrer Tochter zu Weihnachten erinnert. Jeder Schritt muss sorgfältig geplant sein. Keine Minute außerhalb des Zeitplans. Die Beamten wollen alles wissen. Wann sie wo ist, wer sie wo abholt, was sie dort tut und wie lange. Ein Touristenvisum hat sie beantragt. Einen Freigang bekommt sie, wenn der Antrag bewilligt wird. Frei in einem anderen Land. Wie frei ist man, wenn man vorher alles planen muss? Flüge buchen, Züge, Versicherungen abschließen und genaue Berichterstattung über die Reise abgeben? Es zieht unangenehm in der Magengegend, wenn sie an das Geld denkt, dass ausgegeben ist für eine Reise, von der sie nicht weiß, ob sie sie antreten darf.

Das Hungergefühl ist verschwunden. Der Geruch vom Kohl zurück im Hausflur ruft Übelkeit hervor. Sie möchte schreien. Die Ungeduld in kleine Stücke zerhacken und in Gewissheit Ruhe geben. Hier oder da. Sie wird nicht streiten. Kein Aufsehen erregen. Wenn der Antrag abgelehnt wird, versucht sie es im nächsten Jahr wieder. Sobald neue Hoffnung getankt ist, die Unruhe im Körper zur Ruhe gekommen. Wird er bewilligt, kehrt sie nicht zurück. Auch dafür ist alles geplant.

Seit drei Monaten zapft sie Bier, serviert Essen an die Männer und Frauen, die die Macht haben, über ihre Zukunft zu entscheiden. Sie wissen das nicht, aber sie. Kennt jedes einzelne Gesicht von den langen Stunden die sie im Korridor im Konsulat gewartet hat, Fragen beantwortet, freundlich gelächelt. Hier braucht sie nicht lächeln, stellt nur wortlos die Teller vor ihre hungrigen Bäuche und räumt sie später wieder ab. Selten bekommt sie ein Trinkgeld. Selten sagt sie Danke. Am Nachmittag wäscht sie das Geschirr, spült die Gläser und verteilt die Speisekarten für den Abend. Wenn wenig los ist, steht sie aufrecht hinter der Bar und wartet, dass die Zeit vergeht. Starrt an die Wand. Durch die Wand hindurch.

Dann eilt sei nach Hause, kocht Abendbrot für ihre Tochter, kontrolliert die Schulaufgaben und beginnt um 8 die Nachtschicht im Altenheim. Sie mag die Arbeit dort. Das ist, was sie gelernt hat. Sie fühlt sich sicher in jedem Handgriff, die Alten sind dankbar und lächeln. Es ist ruhig nachts und sie braucht nicht reden. Oft schläft sie ein in der kleinen Schwesternkammer, öfter als früher und manchmal murren die Alten, wenn sie zu lange braucht, nachdem sie geläutet haben. Aber am nächsten Morgen haben sie das meist vergessen, abends lächeln sie wieder.

Die Wochen vergehen, jeden Tag der gleiche Ablauf. Das Datum der Flugtickets nähert sich, der Briefkasten bleibt leer. Sie hat nichts gepackt. Keine falsche Hoffnung machen, keine Vorfreude. Warten. Die Unruhe ertragen. Sie zapft weiter wie programmiert die Biere, stellt Teller vor hungrige Bäuche, starrt an die Wand. Durch die Wand hindurch. Nachts Fieber messen, Betten neu beziehen, Pillen verteilen. Ein wenig Schlaf zwischendurch. Ihre Tochter schaut täglich scheu auf die Koffer auf dem Schrank. Sie merkt das und erkennt die Frage. Aber sie antwortet nicht. Sie packt nicht, solange kein Brief da ist. Keine falsche Hoffnung, keine Vorfreude.

Die Zeit wird knapper. Das Geld liegt im Küchenschrank, neben dem blauen Ordner, den sie jeden Tag sorgfältig auf seinen Inhalt überprüft. Sie zapft Bier und starrt an die Wand, durch die Wand hindurch. In zwei Tagen hebt das Flugzeug ab. Mit oder ohne ihr und ihrer Tochter. Der Briefkasten schläft tief und träumt von weißen Umschlägen mit blauen Stempeln. Nachts Fiebermessen, eine Frau stirbt leise im Schlaf. Formulare werden ausgefüllt, die Leiche abtransportiert. Sie wartet weiter.

Am Donnerstag eilt sie weniger schnell, weniger langsam heim. Im Briefkasten ein weißer Umschlag mit blauem Stempel vom Konsulat. Sie öffnet ihn sorgfältig, entfaltet das A4 Blatt. Der Antrag ist bewilligt. Ihr Flug seit einer Stunde in der Luft. Sie legt den Brief in den blauen Ordner und eilt zurück ins Lokal. Wäscht Teller, spült Gläser und schaut an die Wand. Durch die Wand hindurch.