Bei dem Wort Kindheit laufe ich auf großen Holzstelzen durch den riesigen Garten meiner Oma. Am Kirschbaum hängen unreife, viel zu saure Kirschen. Darunter gucken Kaninchen hungrig aus ihrem Stall. Ich füttere ihnen eine handvoll Haferflocken aus der Papiertüte im Stall oder ein paar Blätter Löwenzahn direkt von der Wiese.
Die Wiese scheint endlos und immer saftig. Hier und da liegen kreisrunde Flecken, die mein Opa mit der Sense in regelmäßigen Rundschlägen gemalt hat. Die Sense fasziniert mich. So sehr, dass ich es nie wage, ihre Klinge auch nur zu berühren. Stattdessen starre ich sie lange im Stall an, halte sie und versuche verzweifelt Grashalme damit zu köpfen. Opa kann das besser.
In den Ställen finde ich über Jahre hinweg immer wieder neue faszinierende Dinge, die ich nicht zuordnen kann. Im Kohlenstall überkommt mich regelmässig das Bedürfnis aufzuräumen und sauber zu machen. Bis in die hintersten Winkel der Ställe traue ich mich nicht. So weit reicht das Licht der staubigen Glühbirnen nicht. Staub. Er klebt mir auf dem Kopf, im Mund. In den verlorenen Winkeln meiner Hosentaschen.
Wenn ich hungrig bin, laufe ich zum Gemüsebeet am Zaun zu Nachbars Garten, rupfe mir ein paar Karotten heraus, spüle sie unter dem eiskalten Strahl des Wasserhahnes unter der Wäscheschnur und kaue das frische rot. Wenn Nachbarn in der Nähe sind, verstecke ich mich. Ich mag ihr Geschwätz nicht. Ihre Fragen und das Gewundere über meine Ähnlichkeit zu meinem Papa.
Die alte Schaukel quietscht in dem hölzernen Gestell. Ich träume mich darauf weit hinauf in den Nussbaum, der nur alle paar Jahre trägt. Dann trägt er so viele Nüsse, dass es für die nächsten Jahre reicht. Weihnachten gibt es immer Nüsse. Körbe voll Walnüsse. Ich mag keine Walnüsse. Sie schmecken bitter und sind aufwendig zu schälen.
In den alten Eichen vorm Haus lebe ich in Rollenspielen versunken. Die Welt ist ein Zauberwald, jeden Tag neu und unangetastet. Morgens schwarz weiß und abends kunterbunt von mir bekleckst.
Selten bin ich im Haus. Dort gibt es Essen. Viel zu viel und sehr fleischhaltig. Mir wird oft schlecht vom vielen Fleisch. Zum Nachtisch gibt es Obst aus großen Gläsern, die meine Großtante in ihrem dunklen Keller bunkert. Der Keller ist so niedrig, dass Erwachsene sich den Kopf stoßen. Es ist ganz still und schwarz. Alte Küchenmöbel singen dort unten im Keller traurige Klagelieder über die Schätze, die in ihnen ruhen.
Am Küchentisch rasiert sich mein Großonkel nach dem Frühstück das alte graue Gesicht. Bei Regenwetter spielen wir dann Mensch ärgere Dich nicht und ich ärgere mich. Ich hasse dieses Spiel und ärgere mich, dass es meinen Bruder freut, wenn ich mich so ärgere.
Abends schauen wir fern. Viel zu viel und wenn wir schlafen sollen schleichen wir uns leise zurück ins Wohnzimmer und schauen noch mehr fern.
Ich weiß nicht, was wir schauen, aber ich weiß, wie das Eichenlaub vorm Haus raschelt, höre noch immer die klapprige Holztür zum Vorbau zuschlagen, fühle die Kälte am Morgen, bevor der Ofen heizt und spüre den Geschmack von Asche, nachdem ich sie in die Tonne geleert habe.
Ich habe 10 Jahre meiner Kindheit in der Plattensiedlung verbracht. Die Erinnerungen dort übermalt mit denen der Besuche meiner Großeltern auf dem Dorf. Eine wunderbare Zeit.