ANKUNFT

Als ich begriff, dass der Witz über meine Behausung der nächsten sechs Monate kein wirklicher Witz, sondern von höhnisch lachendem Ernst begleitete Wahrheit war, wurde mir zum ersten Mal an diesem Tag wirklich schlecht. Es mag nicht nur an dem Witz gelegen haben, ich hatte auch lange nichts gegessen und übermäßig viel Nervosität mit Nikotinmischungen betäubt. Das letzte sich in meiner Erinnerung befindliche Getränk war ein Grande Size Café Latte im Pappbecher, den ich halb leergetrunken im Zug stehenlassen hatte. Das war drei Stunden her. Mir war kalt und die neuerliche Erscheinung der Übelkeit liess mein Herz etwas untypisch schlagen. Schlecht war mir schon öfter gewesen heute und auch in den letzten Tagen. Aber bisher hatte es immer die Option des Umdrehens gegeben. Ich hatte bis zum Bahnhof Oban noch immer die Chance gehabt davonzulaufen. Umzukehren und weiter mit einem Stapel Lebensläufe unter dem Arm durch Brighton zu spazieren, auf der Suche nach einem Job. Irgendeinem Job. Aber ich wußte, dass ich das jetzt durchziehen musste. Allein. Für mich.

Viel Zeit zum Nachdenken und Schlechtsein blieb mir nicht. Jimmy, mein Chef, der mich vor fünf Minuten am Fährhafen aufgegabelt hatte, schob mich bereits quer durch die noch leere, nach Bratenfett riechende Küche zum Büro seiner Frau, Cecilia. Mit Cecilia hatte ich bereits telefoniert und mir daraufhin ein lebhaftes Bild von ihr gemalt, welches nun in wenigen Sekunden brachial zerstört wurde. Cecilia war weder alt noch blond, noch schottisch stabil gebaut. Sie wirkte recht jung und lachte etwas zu künstlich, aber in Anbetracht meiner Nervosität war mir das momentan noch recht egal. Zumindest passte ihre etwas, wie mir schien, überdrehte Art zu der Schnelligkeit, in der sie mir vor drei Tagen am Telefon den Namen des Ortes Craignure buchstabierte. Nach vier Wochen England war mein Hörverständnis der englischen Sprache zwar gewachsen, aber Buchstabierungen aufzugreifen übertraf nach wie vor meine neuerworbenen Fähigkeiten. So war ich bis C R A gekommen, gefolgt von einem wirren Gekritzel, in dem sich der Rest des gesamten Alphabetes hätte verstecken können. Am Ende des Telefonates hatte ich eilig in meinem deutschen Schulatlas erst die kleine Insel Mull, und dann einen unausprechlichen Ort, der mit C R A begann, gesucht und zu meiner Überraschung auch gefunden. Da war mir noch immer nicht bewußt, dass ich mich in diesem schon heute, am 3. Mai 2004 einfinden würde, um die nächsten sechs Monate Biere auszuschenken, Essen an hungrige

 

Touristen zu verteilen und Betten auszuschütteln. All das für einen an der Minimumgrenze vorbeischrammenden Stundenlohn und Übernachtung in einem zwar groß, aber klapprig erscheinenden Wohnwagen.
Während Jimmy und Cecilia weiter auf mich einredeten um mit mir den weiteren Ablauf des Abends und der nächsten Tage zu besprechen, mich fragten ob ich einen Kaffee wolle oder lieber einen Tee, hungrig sei oder nicht doch lieber etwas Ruhen möchte, ob ich zuerst all meine Kollegen kennenlernen oder doch lieber erst duschen möchte spürte ich all die Anstrengung und Müdigkeit in meine Beine sacken. Ich sehnte mich nach allem gleichzeitig, nach einer warmen Dusche und frischen Sachen, nach Essen und etwas Ruhe. Gleichzeitig wollte ich sofort wissen, mit wem ich es die nächsten Wochen zu tun haben würde, anstatt allein in dem Wohnwagen zu sitzen und mich mit der Tatsache abzufinden, dass das mein neues zu Hause sein sollte. Gedanken schossen um mich. Es sah nicht so aus, als würde sich so schnell Ruhe in meinem Kopf finden und so überließ ich Cecilia vorerst all meine Entscheidungen und folgte ihr wie befohlen erst zur Besichtigung der Personaldusche, da die in unserem Wohnwagen noch nicht funktionierte, dann in die Wäschekammer, um mir Handtücher und Bettwäsche zu besorgen und dann auf die abenteuerliche Reise in den Wohnwagen. Unterwegs begegneten wir Emmy, mit der ich nicht nur die Arbeit, sondern auch die blecherne Behausung teilen würde. Emmy war zwei Tage vor mir angereist und bereits mitten in ihrer ersten Schicht an der Bar. Dementsprechend desinteressiert war sie, mich ausgerechnet jetzt kennenzulernen. In ihrem Kopf, der zu meiner großen Verwunderung hochrot angelaufen war, mischten sich die verschiedensten Anfragen verschiedenster Personen nach einer weiteren Runde Bier, einem Doppelzimmer für die Nacht und der Suppe des Tages. Cecilia gab ihr in einem Sprachtempo Anweisungen, dass es mich wunderte, als Emmy dankend davonzog. Ich hatte nicht einmal Bruchstücke davon verstanden. Dann schob sie mich weiter zur Tür und begab sich fröhlich plaudernd auf den matschigen Weg zum Eingang des Wohnwagens. Die blecherne Tür klemmte und Cecilia musste fest daran ziehen, wäre dann bei der raschen Öffnung fast der fliegenden Tür gefolgt und im kniehohen Brennesselgestrüpp gelandet. Mir war noch immer nicht zum Lachen zumute. Mir ging es wirklich schlecht.

Im Inneren machte ich mir mehr Gedanken über die Höhe des Gefährtes, als über dessen Größe. Es stellte sich heraus, dass der Wohnwagen nicht nur über zwei Schlafzimmer, sondern dazu noch über ein Wohnzimmer, eine Durchgangsküche, die wirklich nicht mehr als eine Küche im Durchgang war, einem WC, einem Bad und einem Abstellraum bestand. Mein Zimmer war nicht viel größer als das Einzelbett,

das darin stand. Meine Koffer und ich füllten den Rest komplett aus, aber ein Beistelltisch und eine kleine Tischlampe gaben dem Ganzen eine gewisse Gemütlichkeit, die mich beruhigte. Plötzlich verschwand ein Stück des unguten Gefühls. Ein Schwall von Motivation und Begeisterung für ein neues Abenteuer stiegen in mir auf. Ich spürte meinen Puls wieder und sogar ein Lächeln im Gesicht. Ich weiß nicht ob es am ersten Einblick in mein neues Zimmer lag, dass sich plötzliche Ruhe in mir einstellte, die Tatsache, dass ich eine Tür hatte, die ich schließen konnte, ein Bett, in dem ich mich zurückziehen konnte, wenn die Gewalt dieses neuen Abenteuers mich übermannte. Es konnte ebenso der kleine Kohleofen im Wohnzimmer sein, der trotz seiner rostigen Farbe und dem undicht ins Dach wachsenden Rohres Wärme ausstrahlte, die ich den ganzen Tag so nicht gespürt hatte. Letztendlich war es egal. Ich war da. Ich hatte den ersten großen Fels auf dem Weg umgangen und die Reise bis zum Ende durchgehalten. Ich würde auch den Rest schaffen. Allein. Für mich.

Cecilia verabschiedete sich vorerst zu ihrem Dienst in der Küche und versprach mir ein warmes Abendessen an der Bar. Sobald ich mich erholt hatte.
Allein zurück im Wohnwagen verspürte ich das Verlangen sofort alle Lieben daheim anzurufen, gleichzeitig mir eine erfrischende Dusche zu gönnen und meine Taschen auszupacken, um es mir in diesem neuen Zu Hause gemütlich zu machen. Sehnsucht nach Ruhe. Dem Stress des Neuen mit Gewohnheit begegnen.

Der erste Drang zu telefonieren wurde sofort verworfen, als ich feststellte, dass es in der Blechhütte keinen Empfang gab, mein Handy aus lauter anstrengender Suche nach einem Mobilfunknetz die Energie verloren hatte und nach Ladung schrie. Ich wühlte in meinen Taschen nach dem Ladegerät und das aufgrund fliegender Kleidungsstücke entstehende Chaos strich auch das dritte Verlangen, es mir gemütlich zu machen. Die Gewohnheit hatte noch Zeit. War es nicht sowieso zu früh dafür ? Blieb noch die ersehnte Dusche, doch die befand sich im Haus neben der Küche und ich mochte nicht schon wieder in der Tür stehen, während Cecilia mit Kochen, oder vielmehr mit dem Frittieren verschiedenster Lebensmittel, wie sich später herrausstellte, beschäftigt war.

Unentschlossen lief ich durch den Wohnwagen, betrachtete die mit dünnem Holz beschlagenen Wände, die dem ganzen etwas Wochenendurlaubsstimmung verliehen, aber sicherlich nicht zur Wärmedämmung beitragen würden, und entdeckte erst dann die Aussicht, die das riesige Fenster hinter der Couch bot. Ein “Wow!” entkam meinen Lippen. Reine ehrliche Begeisterung. Vorher hatte ich nur Jimmy’s Wagen wahrgenommen, von dem aus ich auch das erste Mal den Wohnwagen, aber nicht

seine üppige Glasfront gesehen hatte. Jetzt schaute ich zum ersten Mal über das dunkelgrüne Autoblech hinaus in die Ferne. Die schottischen Highlands lagen schlafend im Nebel, vor Ihnen ein Ausläufer des Atlantik. Die Wucht des Wortes Atlantik traf mich wie ein Schlag. Den Atlantik überquerte man, wenn man nach Amerika wollte und das war einige Welten von meiner eigenen entfernt. Plötzlich plazierte sich ein verlorenes kleines Puzzleteil in der Weltkarte in meinem Kopf an seinen rechten Fleck.

Von links schob sich langsam eine Fähre in das Bild vor mir. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich begriff, dass es das gleiche Boot war, mit dem ich vor kurzer Zeit angekommen war. Wie lange hatte es am Ufer Craignure’s gelegen? Wie lange war ich nun schon hier auf dieser Insel, in diesem verlassenen Ort, den ich noch immer nicht ohne zu stolpern aussprechen konnte? Wie lange war ich schon hier am Rande meiner Welt?

Schnell suchte ich ein paar neue Sachen vom Boden in meinem Zimmer, warf mir in der Küche im Durchgang etwas eiskaltes Wasser ins Gesicht und drückte kraftvoll die Eingangstür nach außen. Zum ersten Mal atmete ich die schottische Luft bewußt ein. Kühl und feucht. Es war ein recht trüber Tag, der sich zum Abend neigende Himmel grau. Ich trug mein nur Mobiltelefon vor zur Straße, schaute brav nach links und rechts, obwohl es nicht schien, als würde in der nächsten Stunde ein Auto angefahren kommen, und überquerte den feuchten Asphalt. Die Fähre war allmählich an den rechten Bildrand gerückt und ließ mich endgültig allein auf dieser Insel zurück. Jetzt war ich da. Allein. Nur ich. Mit mir.

Verzweifelt wedelte ich mein Mobiltelefon durch die Abendluft, streckte meinen Arm zum Himmel und flehte es an, sich doch bitte irgendwo ein Netz zu suchen. Verzweifelt schaute es zurück. War es möglich, dass es an diesem verlassenen Ort noch keine Netzabdeckung für mein Netz gab, oder gar kein Netz ? Wie verlassen konnte eine Gegend sein ? Wie weit hinter der Zivilisation, die ich gewohnt war, hinterherhinken? Diese Frage sollte ich mir noch einige Male stellen und entsetzt die Wahrheit erfahren.

Ich gab auf, dem Mobiltelefon in meiner Hand die Erlaubnis zu schlafen und beschloss, meine neuen Kollegen kennenzulernen.
Zum zweiten Mal an diesem Tag machte ich mir Gedanken um meinen in ca 1.60m Höhe festsitzenden Schädel. Die Tür zum Pub war von ebenso geringer Höhe wie die Decke im gesamten Wohnwagen. Ich zog den Kopf vorsichtig ein und betrat das wohl kleinste öffentliche Lokal, das ich bis dahin gesehen hatte. Es ist erstaunlich,

wie viel Größe kleine Fotos einem Raum schenken können. Aber ich musste mich damit abfinden, die Fotos waren nur da, eine Idee zu bekommen, was mich erwarten würde. Das hier war die pure Realität. Ein Tresen, der kaum Platz für zwei Personen dahinter bot und fünf kleine Tische mit so winzigen Hockern, dass selbst Barbie und Ken über die Tischkante hätten schauen können. Hinter dem Tresen erkannte ich Emmy, die etwas von ihrer roten Farbe im Gesicht gegen ein Lächeln eingetauscht hatte. Und mir damit unbewusst Erleichterung schenkte. Neben Ihr stand Sam, etwa halb so groß, aber umso entschlossener und selbstsicherer dreinschauend. Ich stellte mich Sam vor und er tat Selbiges, nicht ohne mir sofort mitzuteilen, dass er der Tresenmanager war. Ich war verwirrt. Wozu brauchte ein Pub in der Größe eines geräumigen Wohnzimmers einen Manager? Aber ich sah seinen Stolz, der mit seinen Worten über den Tresen schwappte und nickte nur anerkennend. Emmy stand etwas verloren daneben und schaute immer wieder nervös durch den Raum.

Ich bestellte ein Bier, dass Emmy zapfen sollte. Sam war ihr übereifriger Lehrer und Mentor und so zapften beide, was am Ende drei Biere hätten sein können in einer Zeitspanne, in der ich, wäre ich am Verdursten gewesen, somit nur wenige Stunden meines Lebens in Schottland verbracht hätte. Ich lächelte freundlich und freute mich unglaublich, als Sam mir verriet, dass er mich am nächsten Abend in meinen ersten Dienst einweisen würde. Nach meiner dreijährigen Kellnererfahrung als Studentin und ein paar gezapften Bieren hinter einer Bar in Brighton war ich auf seine Lehrmethoden sehr gespannt. Nachdem er sorgfältig auf einem Notizblock notiert hatte, dass ich Fish & Chips als Abendessen wählte und seinen stolzen Managerkopf einen langen Gang entlang in die Küche schob, fragte mich Emmy eilig, ob ich schon mal in einer Bar gearbeitet hatte. Es stellte sich heraus, dass die Erfahrung, die in der Anzeige für diesen Job gefragt war, nicht notwendig war, wenn man, wie Emmy, aus Neuseeland stammte. Ich erfuhr außerdem, dass auch Cecilia gebürtige Neuseeländerin war und für ihre Landsleute einige Augen zudrückte. So hatte Emmy ohne jegliche Erfahrung, die für irgendeine der uns bevorstehenden Aufgaben angeblich notwendig war, diesen Job bekommen. Es freute mich, dass sie mir spontan so offen begegnete und ich versicherte ihr, dass Bierzapfen keine so grosse Wissenschaft war, wie Sam behauptete. Abgesehen davon bezweifelte ich, dass wir für Abwaschen, Essen austragen und Gästezimmer reinigen allzu ungeeignet waren. Plötzlich fühlte ich mich gross und ein weiterer Schwall an Motivation und Selbstvertrauen schob die Angst in mir ein wenig in den Hintergrund.

Zu mir und meinem Abendessen gesellte sich Jimmy und mit seiner Groszügigkeit auch das zweite Bier an diesem Abend. Mir war klar, dass ich nach diesem Tag nicht

zu stabil auf Alkohol reagieren würde, aber ein geschenktes Bier vom zukünftigen Chef schlägt man nicht aus, schon gar nicht, wenn es einem mit einem fröhlich lauten “Prost!” gereicht wird. Jimmy war während der Armee einige Jahre in Deutschland stationiert und war sichtlich erfreut, seine etwas eingeschlafenen Sprachkenntnisse wieder aufzufrischen.

Der Rest des Abends ist in eine Wolke aus unzähligen Bieren, vielen neuen Gesichtern, neuen Namen und vor allem grosser Erschöpfung gehüllt. Müde und erschlagen fiel ich später in mein neues Bett. Als Emmy nach ihrer Schicht die Blechtür aufriss und der Wohnwagen mit jeder ihrer Bewegungen schaukelte, floh ein Lächeln über mein halbschlafendes Gesicht. Das Leben in dieser Blechhütte konnte vielleicht doch ganz aufregend werden. Anders. Neu. Lächelnd und gespannt auf meinen ersten Arbeitstag schlief ich ein. Mitten in der Nacht erwachte ich jedoch und spürte sofort, was Cecilia meinte, als sie mir anbot, eine zweite Decke zu geben. Ich hatte das abgelehnt, Schliesslich bin ich im Gebirge aufgewachsen. Echte Winter waren mir bekannt, Schnee ein wesentlicher Bestandteil meiner Kindheit. Was also konnte mir eine Nacht im Mai in den schottischen Highlands anhaben ?

Ich hatte nicht bedacht, dass die thermische Hülle eines Wohnwagens nicht mit der einer gut isolierten Neubauwohnung nach deutschen Baustandards mithalten konnte. Dass meine Heimat, die ich im Geografie Unterricht als Gebirge zu bezeichnen lernte, eine lächerliche Hügellandschaft war, lernte ich erst sehr viel später. In dieser Nacht im Mai spürte ich was wahre Kälte ist und wurde bis Oktober immer wieder in unterschiedlichster Art und Weise daran erinnert.

AUFWACHEN

Als ich am frühen Morgen meines zweiten Tages in Craignure erwachte, stand das grosse Gefühl der Angst bereits breit grinsend am Fußende meines Bettes. Obwohl da nur ein schmaler Spalt war zur Wand, die mein Zimmer vom Wohnzimmer trennte. Die Angst hatte Platz. Mehr als genug.

In der Ferne erklangen drei mir bekannte Signaltöne, aber ich konnte sie einfach nicht zuordnen. Noch keine vierundzwanzig Stunden verweilte ich hier am Rande meiner Welt, was konnte ich in der Zwischenzeit erlebt haben, dass sich mittlerweile bereits wiederholen könnte ? Als auf die Signaltöne folgend eine Lautsprecherstimme die baldige Ankunft der Caledonian MacBrayne Fähre in Craignure ankündigte und die Besitzer der Kraftfahrzeuge bat, sich umgehend ins Garagendeck zu begeben, wusste ich, was es sein konnte. So wie es aussah, stand der Wind günstig für alle, die verschlafen hatten.

Ich suchte nach meinem voll beladenen Handy und stellte fest, dass die Fähren hier früher fuhren, als ich dachte, früher Touristen ablieferten, als man von so einer verlassenen Gegend erwarten würde. Was gab es auf dieser Insel morgens um neun bereits zu sehen? Was überhaupt gab es noch außer Craignure und dem kleinen Pub da draußen vor der Tür? Mir wurde klar, dass es einiges Herauszufinden gab, aber momentan war mir das noch relativ egal. Dafür blieb Zeit. Sechs Monate Zeit. Außerdem konnte ich noch immer Craignure nicht aussprechen, ohne meiner Zunge eventuelle Langzeitschäden zuzuführen.

Mein nächtlich durchfrorener Körper schrie nach einer warmen Dusche, wahrscheinlich würde sich auch bald ein Gefühl von Hunger einstellen, obwohl von dem momentan noch nicht all zuviel zu ahnen war.
Auf einmal wackelte es in der kleinen Blechhütte. Emmy war erwacht und ließ mich ungeahnt teilhaben an ihrem alltäglichen Morgenablauf. Direkt vor meiner Zimmertür im Gang befand sich die Küche und somit die einzige Quelle, die fließendes Wasser spuckte. Zähne wurden geputzt. Wenige Minuten später wurde die Eingangstür mit Schwung aufgedrückt, dann zugeschlagen. Schritte eilten davon. Ich erinnerte mich, dass ihre Schicht bereits um neun begann. Ich hingegen hatte mich erst halb elf zum ersten Dienst zu melden.

Ich schob den Vorhang meines kleinen Fensters vorsichtig beiseite und überblickte Jimmy’s und Cecilias Garten. Ein kleiner Hund sass gelangweilt hinter der Gartentür im Gras. Gern hätte ich mit ihm ein paar Sorgen getauscht, auf dem Rasen gelegen

 

und in den Himmel geschaut. Die Tatsache genossen, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben in Schottland war. Womöglich an einem sehr westlichen Zipfel, aber so genau hatte ich mir die Karte noch nicht zu Gemüte geführt. Ein weiterer Punkt für die Liste, die noch Zeit hatte. Sechs Monate Zeit. Ich war kein Hund und würde in den nächsten Stunden auch nicht zu einem mutieren, also musste ich sowohl meine morgendliche Unfähigkeit zu kommunizieren als auch meine Angst vor dem zweiten Tag, der wiederum ein erster Tag war, überwinden. Die Ankunft hatte ich geschafft, das erste Kennenlernen wildfremder Menschen. Allein. Ohne auch nur einem bekannten Gesicht in der Menge, dem ich vielsagende Blicke zuwerfen konnte wenn ich Hilfe brauchte, ohne jemandem, der meine Sprache verstand. Der mich verstand. Heute galt es, den ersten Dienst anzutreten, das erste Mal Aufgaben zu erledigen, die mir neu waren. Tag zwei wurde zum zweiten Tag eins. Begann ich die Zeitrechnung auf Mull mit der Stunde, in der ich anreiste, befand ich mich im letzten Drittel meines ersten Tages. Noch acht Stunden und ich konnte Sätze beginnen mit “Gestern um diese Zeit…” und wie auch immer sie enden mochten, sie würden von einer Handlung erzählen, die sich bereits hier auf dieser Insel abspielte. Acht Stunden noch.

Ich suchte mir ein Handtuch aus dem Chaos am Boden. Manche Dinge änderten sich auch in der Ferne nicht. Ich konnte noch immer in wenigen Minuten jedes Zimmer so herrichten, als würde ich schon Monate darin richten und rücken und Dinge über den Haufen werfen. Vor allem kleine Haufen über Grosse. Aber das war hier sowieso unmöglich, denn für mehr als zwei kleine oder einen großen Haufen war einfach kein Platz.

Nach erfolgreicher Auffindung diverser notwendiger Kleidungsstücke öffnete ich die pappartige Zimmertür und stand mitten in der Küche. Sie hatte seit gestern nicht viel an Größe gewonnen, das Wohnzimmer wirkte sogar noch kleiner, was wohl an den orangefarbenen Vorhängen lag, die die Aussicht auf die Weite der Highlands versperrten. In Anbetracht meiner morgendlichen Gestalt war mir das nur recht.

Ich zog mir meine Kapuze über den wirren Kopf und stellte mich der Welt. Und wie sich herausstellte einer für diese Uhrzeit viel zu gesprächigen Chefin. Bereits am zweiten ersten Tag wusste ich, dass die Reparatur unserer Wohnwagendusche äußerste Priorität besaß, wollte man verhindern, dass ich eines Tages explodierte. Ich war neu und ich war schüchtern, sicher auch ein Stück verängstigt. Aber es gab Gewohnheiten, gegen die ich in den letzten auf dieser Welt verbrachten 25 Jahren nicht geschafft hatte anzukommen. Wie sollte mir das in wenigen Tagen gelingen? Ich war kein Morgenmensch und wenn ich erwähnte, dass ich kurz nach Erwachen

nur ungern kommunizierte, so was das das geringste Problem. Die übermäßige Kommunikationsfreudigkeit meiner Mitmenschen war wesentlich schwerwiegender zu ertragen. So versuchte ich höflich lächelnd mit meinem Handtuch wedelnd anzudeuten, dass ich für jedes Gespräch gern bereit war, sobald ich die Dusche kennengelernt hatte. Auch wenn das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Es gelang.

Pünktlich um halb elf erhielt ich eine Ladung T-Shirts, die von nun an meine hauptsächliche Tagskleidung sein würden über der vorgeschriebenen schwarzen Hose und den dazu passenden schwarzen Schuhen. Ich war nicht sehr erbaut über die Wahl der Einheitskleidung, da ich Poloshirts noch nie für die modisch wertvollsten hielt und die Farbe Dunkelblau sicher nicht zu meiner Gewähltesten. Aber das hier war keine Modenschau, die Kiste vor mir bot keine Auswahl und Cecilia machte nicht den Eindruck, als gäbe es hier Wünsche zu äußern. Also zog ich eins der T-Shirts gleich über und war nun vollwertiger Mitarbeiter des Craignure Inn auf der Isle Mull. Ein T-Shirt kam mit seinen Regeln. Nach der Arbeit war es sofort abzulegen und durch sogenannte Freizeitkleidung zu ersetzen. Im Pub durfte man sich zwar jederzeit auch privat sehen lassen, aber nur hinter der Verkleidung eines Menschen in Freiheit, nicht als Mitarbeiter des Selbigen. Ich versicherte gern, dass ich keines, der mir zugeteilten blauen Stoffteile, länger als notwendig tragen würde. Und das meinte ich ehrlich.

Nachdem ich nun also vollwertiges Mitglied im Hause Inn war, durfte ich endlich meinen ersten Arbeitstag beginnen und zwar im Obergeschoss, in dem sich drei zu vermietende Zimmer befanden. Diese mussten täglich penibel geputzt, gesaugt und gelüftet werden. Zu meinem grossen Glück waren alle Zimmer zuvor belegt und so gab es sechs Betten zu beziehen, drei Bäder zu putzen und drei schwere karierte Teppiche zu saugen. Cecilia erklärte mir genau, wie ich am besten vorging, in welcher Reihenfolge ich die Zimmer vom hinterlassenen Chaos in eine überteuerte Drei-Sterne Schlafmöglichkeit verwandelte. Für die Tips, wie ich mit meinen ein Meter langen Armen die überdimensionalen Doppelbettdecken bändigen konnte, war ich dankbar, wenn auch nicht schnell voranschreitend im Lernprozess. Wie ich Möbelpolitur auf die ohnehin glänzenden Tischchen und Schränkchen sprühte und gleichmäßig verteilte, hätte ich eventuell sogar in eigener Übung herausgefunden. Aber die Unsicherheit des ersten Arbeitstages hatte mir ein freundliches Lächeln ins Gesicht gemeißelt und ein Dauernicken in Gang gebracht, das nur schwer zu stoppen schien.

Anderthalb Stunden Zeit blieben mir für das Wiederherrichten der oberen Etage, bis mein Dienst in der Küche begann, Während diesem fuhr die Bettwäsche der Gäste in der Waschmaschine Achterbahn. Zwischen Essen austragen und Abwaschen musste diese dann aus der Waschmaschine befreit in Trockner gestopft werden und am Ende dieser Reise stand ein Bügelbrett mit Dampfbügeleisen. So waren in vier Stunden Aufgaben zu erledigen, für die ich daheim gute drei Wochen veranschlagt hätte.

Um halb drei bekam ich mein erstes “Schichtessen”, eine freie Wahl aus der Speisekarte, die zu neunzig Prozent frittierte Lebensmittel enthielt. Und Burger. Mir fiel auf, dass ich bis dahin noch nicht einmal an Essen gedacht hatte, was bedeutete, dass ich wirklich nervös oder sehr beschäftigt war. Oder beides.

Ich beschloss die Pause bis zu meiner Schicht an der Bar um sechs zu nutzen, um im kleinen Supermarkt ein paar notwendige Lebensmittel zu kaufen. Und die letzten vier Stunden zu verdauen.

Der Supermarkt lag, wie ich bei der gestrigen Einreise der Fähre bereits erspäht hatte, im Zentrum des Dorfes. Ungefähr zweihundert Meter vom Craignure Inn entfernt. Das Angebot reichte von Zeitschriften, unter denen sich sogar ein Ausgabe des Spiegel befand, bis hin zu Drogeriewaren. Dazwischen ein breites, in kleine enge Fächer gestopftes Repertoire an Lebensmitteln, aus denen ich die auswählte, die ich für essbar und eventuell nahrhaltig hielt. In einer kleinen Ecke gab es einen quadratischen Glaskasten, der sich als Postamt herausstellte. Darin hatten maximal eine Person und ein Brief Platz. Aber die Öffnungszeiten verhinderten das Überfüllen dieser Ein-Mann-Zelle ohnehin.

Die Frau an der Kasse verstand ich auch nach dem dritten Anlauf nicht, aber eine digitale Anzeige verriet mir, wieviel mein kleiner Vorratskauf kostete. Als ich auf dem Weg zurück zum Wohnwagen war, kippte eine weitere Fähre weitere Touristen an Land, die unwissend und neugierig um sich blickten. Plötzlich fühlte ich mich ein winziges Stück zugehöriger zu dieser kleinen Gesellschaft hier am westlichen Rande Schottlands. Eine neue Welle an aufbauenden Gedanken und Sicherheit gebenden Gefühlen plätscherte in meine Einkaufstüte.

GEHEN

Die Wohnung war, von Kisten zugestellt und ohne meine unzähligen wuchernden Blumentöpfe, in den letzten Wochen schon so ungemütlich geworden, dass mir das letztmalige Zuziehen der Wohnungstür hinter mir nicht sonderlich schwer fiel. Der Garten jedoch, den würde ich vermissen. Die Hecke, die sich im Sommer vor Schwere nach außen bog und unseren Nachbarn damit die Laune verübelte. Der Baum, der ursprünglich ein Strauch war und auf Grund der Tatsache, dass er nun Baum geworden war, nicht sehr zur Besserung des nachbarschaftlichen Verhältnisses beitrug. Schlimmer noch, er wurde im März im Zuge einer allgemeinen Beschwerde über den überdurchschnittlichen Grünzustand unseres Gartens kurz vor seiner Frühjahrsblüte für tot erklärt. Während man das zu hoch gewachsene Gras und die unrasierte Hecke bemängelte, so fehlte es dem Baum, der doch eigentlich ein Strauch war, anscheinend an Grün. Dank einer günstigen Fügung oder auch nur der Natur der Dinge erwachte er wenige Tage später zum Leben zurück, hatter er sich doch nur über die kühle Jahreszeit ein wenig ausgeruht, die Nachbarn hoffentlich ein Stück Biologie dazugelernt.

So schaute ich mich ein letztes Mal um, trug meinen schweren Rucksack ein letztes Mal die Straße hinauf und war froh, dass es für den Berufsverkehr noch zu früh war. Ein letztes Mal schaute ich die leere Straße hinab bevor ich abbog und an der Haltestelle in den Bus stieg. Ein letztes Mal. Das waren viele Letzte Male in letzter Zeit. Der letzte Arbeitstag, der letzte Tanz im Regen, der letzte Whisky in dem Land, in dem er geboren war. Alles Letzte saugte man auf, solange es ging nur um dahinter, hinter dem wirklich letzten Letzten, das erste Erste zu entdecken. Eine neue Zeitrechnung anzubrechen, in der alles neu war, in der man so vieles zum ersten Mal tat und sah bis man auch dort zum ersten mal etwas ein zweites Mal tat.

So saß ich also ein letztes Mal in einem roten doppelstöckigen Bus oben direkt hinter der Scheibe, wo ich nie wusste, wohin ich meine Beine klemmen sollte, weil zu wenig Platz war. Aber die große Scheibe gab mir einen letzten Blick auf all das, was ich doch so unbedingt verlassen wollte, was ich so lange ertragen hatte in einer Stimmung, in der ich nicht mehr wusste, wie lange ich es noch ertragen konnte. Jahre waren vergangen und schon einmal hatte ich das Gefühl, die Sachen packen und gehen zu müssen. Aber der Zeitpunkt war nicht richtig, die Dinge hatten sich geändert, zurecht geschoben und so wurde das unwohlsame Gefühl in einen der ungepackt gebliebenen Koffer gestopft und in die Ecke gestellt. Das war der Zeitpunkt, an dem ich erkannt hatte, dass man die Dinge nicht planen kann, dass sie passieren, wann es ihnen recht ist, wenn man es nur zulässt. Von da an hatte ich mein Leben ein wenig mehr sich selbst überlassen, den Zufällen vertraut und zugeschaut, wie sich Farbe über die Skizzen ergoss.

Zwei Jahre später brach der Koffer in der Ecke unter einer Ladung Staub zusammen und das unwohlsame Gefühl gesellte sich wieder zu mir. Dieses Mal war es der richtige Zeitpunkt. Der Zeitpunkt zu gehen.
Der Busfahrer an diesem Morgen hatte entweder Verfolgungswahn oder selbst einen Flug am Flughafen reserviert. Ich wurde in meinem Sitz hin- und her geschaukelt, so dass ich hoffte, dass diese letzte Fahrt in einem roten doppelstöckigen Bus nicht meine letzte Fahrt überhaupt sein würde. So schnell war ich noch nie die Royal Mile hinauf gerast, und das an dem Tag, an dem es hätte am längsten dauern können. Um alles aufzusaugen, einzuschließen und mitzunehmen. So grau und wirklich es da draußen in der Welt lag.

Statt dem üblichen Flughafenbus hatte ich die Linie 35 gewählt, die mich in doppelter Zeit zum gleichen Ziel führen würde. Solange der Fahrer nicht ein potentieller Selbstmörder war. Und so ging die Fahrt weiter, schaukelnd die Chamber Street hinauf vorbei am Museum, an Greyfriars Bobby, dessen steinerne Existenz ich bis heute nicht verstand, und vorbei am Sandy Bells. Live Musik und eine breite Auswahl an Whiskies waren hier Abend für Abend garantiert. Der Mann, der nicht Gitarre spielen konnte, nicht einmal ansatzweise, und doch jeden Abend im Abseits wenige Millimeter über den Saiten die Finger bewegte. Er hatte nur dieses eine Gesicht, verzog nie die Miene. Er redete nicht, lachte nicht. Und spielte nicht. Ein Mann der nichts war außer da. Abend für Abend.

In Lauristen Place ging es vorbei an einer privaten Grundschule, in der die Kinder vom Chauffeur der Eltern gebracht und abgeholt wurden. Ein schlossartiges Gebäude umringt von grün, nichts als grün. Gegenüber hinter einem modern Glasneubau das Grün des Proletariats, der Park der Studenten und Familien, der Künstler und der Obdachlosen. Die Meadows.

Ein kurzer Halt an der Kreuzung zu Lothian Road gewährte mir einen letzten kurzen Blick auf das Filmhouse, bevor es mich ruckartig aus meinem Sitz presste, meine Beine ein Stück in meinen Körper geschoben wurden und ich glaubte, einige Zentimeter kürzer dieses Land verlassen zu müssen. Auch das war mir egal, sollte ich das Land nur lebend verlassen.

Der Rest der Fahrt führte hinaus aus der Stadt, am Sitz der größten Bank des Landes vorbei und geradewegs zum Flughafen, Beim Aussteigen hinterließ ich dem Fahrer statt des üblichen “Thanks!” einen vorwurfsvollen Blick, der, dessen bin ich mir sicher, ihm auch egal war.

Während in der Innenstadt noch keine Katze die Augen geöffnet hatte, war an den Check-in Schaltern am Flughafen bereits geschäftiges Markttreiben im Gange. Ich ließ mich nicht drängeln oder stressen, Ich hatte Zeit. Um all die letzten Dinge ein letztes ml bewusst zu erleben, hatte ich mir mehr Zeit als sonst eingeräumt. Doch ich merkte, wie ich gespannter wurde auf die ersten Male auf der anderen Seite des Tages. Wie mich die letzten grauen Wolken, der letzte Regen nicht mehr wirklich so berührten wie ich es erwartet hatte.

Erneut stand ein neues Kapitel in meinem Leben bevor. neue Menschen, neue Aufgaben. In wenigen Tagen würde ich das 30. Lebensjahr vollenden. Viele andere in meinem alter, Freunde und Bekannte aber auch Unbekannte und Fremde waren zu diesem Zeitpunkt ihres Lebens bereits verheiratet, trugen Kinder auf dem Arm und sparten Geld für diesen Urlaub, diesen einen Urlaub. Ich hatte weder Kinder noch Hochzeitsfotos, meine Urlaube bestanden darin für andere Menschen Häuser zu bauen. Ich hatte andere Dinge erreicht. Ich war gewachsen, Ruhe und Zufriedenheit hatten die bösartigen Bakterien der Ungeduld und Unsicherheit bekämpft, den Geist geheilt. Ein langer steiniger Weg lag hinter mir, ich hatte mich verbogen und angepasst, auseinander geschraubt und wieder neu zusammengefügt. Ich hatte die Farben neu gemischt. Nun schaute ich vorzeitig, noch vor dem letzten Abheben, dem letzten Blick auf Schottland aus der Luft – dem wahrlich letzten Letzten – hinüber auf das erste Erste. Ich war gespannt und neugierig.

Als mein Flug aufgerufen und die Passagiere der Kategorie A gebeten wurden einzusteigen, alle Passagiere sowohl der Kategorie A als auch der Kategorien B und C aufsprangen und den Passagieren der Kategorie A den Weg versperrten, wusste ich, dass es unbedingt an der Zeit war zu gehen. Endgültig. Also stand ich auf und ging. Mein A in der Hand vorsichtig die drängelnde Menge aus B und C beiseite schiebend. Selbstsicher und überzeugt. Lächelnd.

TRINKEN

Ich stand am Bügelbrett und schaute hinaus in die Highlands. Wäre die Schnur des Dampfbügeleisens etwas länger gewesen, hätte ich das Bügelbrett parallel zum Fenster ausrichten können. So stand ich etwas schräg zum Fenster, drehte also hin und wieder meinen Kopf und genoss die Aussicht. Es war ein verregneter Tag, die Wolken hatten sich zu einem einzigen Berg aus Grau zusammengeschlossen und klebten am Himmel. Ähnlich verschleiert sah der Rest der Welt aus. Der Regen hing buchstäblich in Bindfäden vom Wolkenknäuel herab und schien sich ausgiebig zu amüsieren. Ich tat selbiges. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal ein Bügeleisen in der Hand gehalten hatte. Mir erschien die Tätigkeit des Glättens meiner Kleidung ebenso sinnlos wie das Aufräumen meines Schreibtisches. Energieverschwendung ohne lange währenden Erfolg. Zeitverschwendung. Hier jedoch war es keine Tätigkeit, die ich zu beurteilen hatte. Die Gäste erwarteten saubere Bettwäsche und die hatte gebügelt und glatt gestrichen zu sein. Zu meinem Erstaunen machte mir das nichts aus, Die Überzüge waren vom Waschen so faltig, dass es mir Freude bereitete zu beobachten, wie nach jeder Dampfreise mit dem Bügeleisen mehr Falten verschwanden. Nebenbei genoss ich die Ruhe hier im eigentlichen Frühstücksraum der Pensionsgäste. Es war der einzige Raum, der bis zum nächsten Morgen nicht genutzt wurde, indem also ausgiebig gebügelt werden konnte. Helen stand in der Küche und frittierte Gefrorenes für ein paar vereinzelte Gäste. Sie würde mich rufen, wenn sie Hilfe brauchte. Bis dahin konnte ich die Ruhe genießen, die Aussicht in das Grau des Regens während im Warmen stand und Falten verschwinden ließ.

Mir wurde gesagt, dass das Wetter hier oft so war, manchmal tage- oder wochenlang in der Form anhalten konnte. Mich hatte das noch nie wirklich erschreckt, ich mochte den Regen. Und gerade jetzt, in diesem Moment, gefiel mir die Vorstellung, dass es immer so gemütlich sein würde. Grau, nass und windig draußen. Ich im Warmen, in Ruhe. Nur die Falten und ich. Aber schon die Erinnerung an den gestrigen Abend war Beweis genug, dass es so keine sechs Monate sein konnte. Ich hatte meinen ersten Dienst an der Bar mit Sam erlebt. Und zu all meiner Freude, wahren und wirklichen Freude hatte er mir sehr bald schon erzählt, dass es einer meiner letzten sein würde, da er in wenigen Tagen seinen letzten Dienst im Craignure Inn absolvierte. Es gab vieles, vor dem ich Angst hatte als ich auf die Insel

 

kam. Und es gab vieles, vor dem ich noch immer Angst hatte. In den letzten zwei Tagen hatte ich oft ein erleichterndes Erlebnis gehabt, eine Angst vertrieben, ein paar Zweifel verschoben. Aber die Tatsache, dass ich nicht mit Sam den ganzen Sommer über auskommen musste, war eine der größten Erleichterungen. Vom ersten Moment an war mir Sam nicht nur unsymphatisch, er war außerdem sehr belehrend und penibel. Oder war es genau das, was ihn mir so unsymphatisch erscheinen ließ? Es war letztendlich egal, wir spürten beide eine Abneigung gegeneinander. Wir waren beide erleichtert über die Kürze unserer Kollegschaft.
Es war nicht wirklich viel zu tun an diesem Abend. Ein Wochentag Anfang Mai. Nur wenige Touristen bereisten die Insel lange genug, um über Nacht zu bleiben. Und die vereinzelten, die es taten, lagen bereits in ihren Zelten oder glatt gebügelten Pensionsbetten. Sam und ich standen oft tatenlos nebeneinander hinter der Bar. Ein paar Dorfbewohner tauchten hin und wieder auf, zu Sams großer Begeisterung denn er konnte mir bei deren Eintreten bereits sagen, was sie trinken würden. Ich lächelte nett und übernahm die eigentliche Arbeit – das Zapfen, Eingießen und Servieren der Getränke. Sam kassierte das Geld. Gelangweilt suchte ich mir bald eine spannendere Beschäftigung. Ich übte mich im Verstehen der Einheimischen. Mir war bekannt, dass man in Schottland noch immer die Ursprache, das Gälische lernte und die Alteingesessenen es noch immer sprechen konnten. Ich versuchte, dieser eigenwilligen, mir so unbekannten Sprache zu lauschen und etwas zu verstehen, bis ich bemerkte, dass es kein Gälisch war, was diese Herren da sprachen. Es war Schottisch. Original, Highlandisch akzenthaltiges Schottisch, bier- und whiskygetränkt. Die Tonlage war anders als beim Englischen, weniger melodisch. Man wusste nie, ob sie sich nett unterhielten, ob sie sich stritten oder nur betrunkenen Unsinn daherredeten. Ein Lallen, wie ich es aus dem betrunkenen Deutsch kannte, konnte ich hier noch nicht heraushören. Es wurde jedenfalls viel geredet, soviel war klar. Selten sass jemand an der Bar allein, nichts sagend. Egal wer hereinkam, ob der junge Graham oder der alte Bauer John MacKay, er gesellte sich zu dem, der an der Bar saß, hinzu. Hier waren alle gleichwertig. Es gab nur diesen einen Pub im Ort, da konnte man nicht differenzieren zwischen alt und jung, zwischen Freund oder nicht Freund. Da war man eins. Gleich. Unterschiedlich nur die Wahl der Getränke. Und die Menge, die man vertrug.
Der Abend ging dahin. Mit hochrotem Kopf und peinlichst genau erklärte mir Sam zum Abschluss noch, wie ich die Kasse abzurechnen hatte. Vorsichtig hatte ich sie auf beiden Händen tragend im Büro am Ende des Ganges abzustellen und darauf zu achten, die Tür hinter mir sicher zu verschließen. Ich hoffte, mir diese vielen

Arbeitsschritte auf einmal merken zu können und nickte immer wieder brav, um Sam die Hoffnung meiner Fähigkeit zu schenken. Punkt elf löschten wir das Licht im Pub und gingen schnell getrennte Wege.
Heute Abend hatte ich frei. Mein Dienst endete an diesem Donnerstag um fünf. Bis dahin brauchte ich nur noch einen Nachmittag allein hinter der Bar zubringen. Das hörte sich leichter an, als es war. Meine Beine waren vom Warten auf eventuelle Gäste um einiges geschrumpft, meine Geduld erheblich strapaziert. Emmy erlöste mich pünktlich von meiner Qual und fragte, ob wir nach ihrer Schicht später noch etwas trinken gehen sollten. Gehen. Der einzige Pub war dieser als würden wir wohl eher etwas Trinken zurückkehren.

Wir hatten nicht als einzige die Idee. Helena, Scott und Kim saßen bereits bei fortgeschrittener Laune an einem kleinen Tisch auf diesen kleinen Hockern und begrüßten uns, als würden wir nur von einem langen Urlaub zurückkehren, aber sonst jeden Abend hier mit ihnen sitzen. Ich fühlte mich plötzlich eine von denen, dazugehörig, dennoch zu sehr zu schnell zu früh aufgenommen. Hier kannte man mich nicht, noch nicht. Das Bier war stark und spielte, gemeinsam mit allen neuen Eindrücken, mit all der Aufregung und der verrauchten Luft unbekannte Spiele mit meinem Kopf. Aufgeregt wollte ich erzählen, viel erzählen, aber meine Sätze stockten immer wieder auf der Suche nach passenden Vokabeln, immer wieder verlor ich unterwegs den roten Faden. Immer wieder winkte ich ab, “Ah, forget it!” und griff zurück zu meinem Glas Bier, das sich nie zu leeren schien. Zwischenzeitlich hatte ich zwei davon vor mir stehen, eines noch halb voll, da tauchte schon ein frisches auf. Redete ich zu viel oder tranken die anderen zu schnell? Oder tranken die anderen schnell weil ich viel redete? Ich verrannte mich in meinen Gedanken, hätte mich gern zurückgelehnt, blieb stattdessen verzweifelt aufrecht auf dem kleinen Puppenhocker sitzen und lauschte den Gesprächen der anderen vier. Kim, Scott und Helena waren Australier. Sie zogen Emmy wegen ihres neuseeländischen Dialektes auf, mich und mein deutschgetränktes Englisch ließen sie höflich beiseite. Sie fragten mich, ob ich den Unterschied zwischen dem englischen Englisch und dem Australischen Englisch bemerkte. Ich erklärte ihnen, dass ich am Abend zuvor Schottisch mit Gälisch verwechselt hatte und erntete großen Beifall. Für den Rest des Abends hatte ich für Stimmung gesorgt und bald wusste jeder im Pub, dass ich Gälisch nicht vom Schottisch und Australisches Englisch nicht vom Englischen Englisch unterscheiden konnte. Mir war das zu viel Englisch und ich sagte bald gar nichts mehr, trank weiter langsam ,viel zu langsam mein Bier. Gläser reihten sich vor mir auf. Die einzige Runde, in der ich kein neues Bier bekam war die, die ich selbst bezahlte. Aber das

war nur eine von vielen. Halb elf läutete die Glocke hinter der Bar. Last orders. Letzte Chance. Schnell wurden noch Biere gekauft. So schnell, dass ich mich nicht wehren konnte, und kurz vor dem Lichtausschalten noch zwei volle Gläser vor mir stehen hatte. Kenny, der heute die Spätschicht hinter der Bar hatte, rief immer wieder wild um sich, dass es Zeit war, auszutrinken und heimzugehen. Ich glaubte ihm das und stimmte zu, aber schneller konnte ich einfach nicht trinken. Als er bereits begann an den anderen Tischen die Puppenhocker hochzustellen, gab ich auf und ließ das Bier zurück, was ich in meiner Betrunkenheit nur bestärken und mir das morgendliche Aufstehen erschweren würde.

Als ich endlich mein schaukelndes Bett im Wohnwagen erreicht hatte, begann es wie aus dem Nichts erneut zu regnen. Noch ehe ich mich ausgiebig über die Geräusche auf dem Blechdach unserer Behausung freuen konnte, war ich auch schon eingeschlafen.

 

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