Angeschlichen hat er sich im Februar 2018. Da ist er mir das erste Mal aufgefallen. Da habe ich zum ersten Mal gemerkt, dass da ein dauerhaftes hohes Rauschen in meinen Ohren hörbar ist, das nicht mehr verschwindet. Es war auch sofort auf beiden Ohren da und ich weiß noch, wie ich gleichzeitig panisch und erleichtert war. Panisch, weil ich ja keine Ahnung hatte, wo das noch hinführen würde. Erleichtert, weil mir der Tinnitus zeigte, dass ich mir das mit dem Stress und der Überforderung nicht einbildete. Denn das er organische Ursachen haben würde, daran habe ich von Anfang an nicht geglaubt. und natürlich überkam mich immer wieder die Frage: Warum eigentlich ich? Andere haben doch viel mehr Stress. Stelle ich mich einfach zu sehr an? Mich von diesen Gedanken zu lösen, war fast schwieriger, als mit dem Tinnitus leben zu lernen.
Er ist dann stetig schlimmer geworden, bis ich eines Abends im mbsr Kurs (Mindfulness Based Stress Reduction) saß und während einer Meditation, in der es darum ging einfach die Geräusche, die da waren wahrzunehmen, den Tinnitus nicht mehr hörte. Denn bis dahin war es immer das erste gewesen, worauf ich meine Aufmerksamkeit gelenkt hatte, denn es war ja zu der Zeit auch immer das einzig immer stetige Geräusch für mich. An diesem Abend hatte ich die Bestätigung, dass er stressbedingt war und ich mit ihm arbeiten konnte. Dass ich ihn regulieren konnte und dass ich ihn ganz sicher auch loswerden könnte.
Auch heute noch lebe ich mit diesem Tinnitus. Es gibt Tage, da ist er so laut, dass ich Schwierigkeiten habe anderes zu hören. Heute fragte mich der Sohn, ob ich auch so ein leises Brummen hören würde. Ich verneinte, es schien mir unmöglich etwas unterschwelliges zu hören, denn der Tinnitus ist heute auf durchschnittlicher Lautstärke. Ein stetiges hohes Rauschen auf beiden Seiten. Manchmal würde ich gern jemandem mein Ohr leihen um zu hören, wie ich ihn höre.
Das Spannende ist, dass ich ihn im Alltag fast nicht wahrnehme, auch wenn er da ist. Er ist ein stetiger Begleiter geworden. Eine geräuschvolle Warze im Ohr. Ich bin mir sicher, dass ich ihn besiegen werde, wenn ich mich bewusster mit ihm auseinander setze. Wenn ich auch mein Leben mehr auf der Bahn habe, wo ich es haben möchte. Daran arbeite ich gerade sehr viel. Und bis dahin, vermutlich auch darüber hinaus ist er mein Anzeiger dafür, wie gut oder schlecht ich gerade durch die Zeit komme. Wie es mir geht, wie ich drauf bin. Und dafür bin ich ihm sogar dankbar.
Meine zwei Strategien mit ihm umzugehen sind:
1. Ihm keine Aufmerksamkeit schenken. Das heißt ich nehme ihn wahr, steigere mich aber nicht ins Geräusch hinein, vor allem wenn es sehr laut ist. Ich frage mich nicht mehr (wie anfangs oft) „Wie laut ist er heute?“ um dann in ein „Oje is der laut heute, wie soll ich den Tag nur überstehen?“ zu verfallen. Wenn er arg laut ist, weiß ich, dass an dem Tag nicht viel Energie übrig ist und ich reduziere, was geht.
2. Erforschen was anders ist in meinem Leben, wenn er sehr leise ist. Also statt der Frage: „Warum ist er so laut?“ an schlechten Tagen den Fokus auf das lenken, was ihn an guten Tagen leiser macht. Wie geht es mir an solchen Tagen allgemein? Was macht es möglich, dass er so leise ist? Was davon kann ich beibehalten oder vermehren?
Und ich habe aufgehört ihn „meinen Tinnitus“ zu nennen. Denn damit mache ich ihn zu mir gehörig. Er gehört mir aber nicht und ich will ihn ja auch gern wieder hergeben.
Und damit gehe ich mit ihm durchs Leben. Heute ist er so mittellaut. Also werde ich die sozialen Netze jetzt ausschalten, mir heute noch eine Meditation gönnen, mit den Kindern lachen und früh schlafen gehen. So ist der Plan.
Hast du auch einen Tinnitus? Oder andere Stressanzeiger? Wie geht es dir damit? Was hilft dir dabei?
liebe nadine – ja, habe/hatte ich. aktuell, wenn ich grade dran denke, wohl die leichte, helle, leise form von der auch du schreibst. andererseits „hatte“, da ich ihn viele stunden am tag gar nicht mehr wahrnehme. er daher für mich auch nicht existiert.
und wenn ich wie jetzt eben genau hinhöre, dann bin ich nicht beunruhigt, sondern zutiefst dankbar. weil das schon anders war. die ersten drei hörstürze (schreibt sich in der mehrzahl für mich sogar komisch) habe ich nicht akzeptiert. cortison, durchblutungsförderndes und … gemma. hat auch wirklich 3x geklappt. irgendwann zack, weg. #4 war dann wohl eine hausnummer zu heftig. und ich bin endlich so richtig flach gelegen. das pulsierende hämmern im rechten ohr war zu dem zeitpunkt fast eines der kleineren probleme. obwohl ich das auf dauer wohl nicht durchgestanden hätte. … keine ahnung.
zum glück ist es nicht so weit gekommen. auch wenn die ärzte nach 3 monaten meinten, das wäre jetzt halt chronisch und ich sollte mich möglichst damit anfreunden.
ein MBSR-kurs schien mir zu dieser zeit durchaus angebracht, auch wenn ich währenddessen keine besserung erlebte, sondern ich beim sitzen an schlechten tagen erst recht das gefühl hatte, mir würde der schädel platzen.
aber – der weg war wohl richtig. und nach ca. einem halben jahr begannen sich die minuten in stunden zu verwandeln, wo ich die geräusche gar nicht mehr wahrnahm. und wenn doch, sich der ton eben in ein helles pfeifen verwandelte.
bis vor 15 minuten hatte ich vielleicht sogar tage nicht mehr daran gedacht, hingehört. jetzt freue ich mich, dass ich mit dem vertrauen auf „kommentar abschicken“ klicken kann, dass alles gut ist. fast alles. jedenfalls genug. – danke für deine zeilen! … und hoffe, der plan hat funktioniert. 🙂
Lieber Matthias, danke für das Erzählen. Das klingt ja nochmal eine Hausnummer übler und ja, als ich gelesen hab damals, dass mit Cortison gearbeitet wird, hatte ich wirklich keine Lust auf so eine Behandlung. Vielleicht hab ich auch ein bisschen das „Opferdasein“ genossen, weil einen ja alle bemitleiden, dass man sowas ertragen muss. Und weil ich mir damals ja selbst nicht eingestanden habe, dass alles etwas viel ist. Ich wünsch dir jedenfalls weiterhin eine schöne Stille im Ohr, so bisschen leises Pfeifen is ja im Advent ganz besinnlich :)) Alles Liebe!