Auf der anderen Seite der Straße

Als ich unlängst dem Exmann versucht habe zu erklären, warum ich eine gewisse Summe Geld, die er mir geben wollte, nicht nehmen konnte, hatte ich das Gefühl, dass ich die Begründung recht klar formuliert hatte. Als seine Antwort kam, merkte ich jedoch sofort, dass er nicht verstanden hatte, was meine Beweggründe waren. Vielmehr hatte ich verstanden, dass er all die Jahre, die dieses Thema an unserer Beziehung genagt hatte, nicht wirklich gesehen hat, warum das eines unserer Probleme gewesen war, was es mit uns, aber vor allem mit mir gemacht hatte.

Und das lag nicht daran, dass er dumm wäre oder unwillig zu verstehen. Es lag und liegt daran, dass wir einfach viel zu oft auf der anderen Seite der Straße stehen und die Dinge aus unserer Perspektive sehen. Und wie so oft im Leben ist viel zu viel Verkehr, die Autos rauschen lärmend zwischen uns durch und während wir noch mit den Händen fuchteln und rufen “Versteh mich doch!” oder “Hör mir doch mal zu!”, steht der andere da und wünscht sich genau das Gleiche.

Naja und sehr oft im Leben ist die nächste Fußgängerampel hunderte Kilometer entfernt. Und wir haben keine Zeit bis dahin zu gehen. Abgesehen davon, dass wir oft einfach auch keine Lust haben, auf die andere Seite zu gehen. “Komm Du doch hier rüber und erklär es mir!” denken wir. Es ist nie böse gemeint, es steckt selten eine ungute Absicht dahinter. Wir kommunizieren einfach nur viel zu oft von unserer Seite der Straße aus. Und das hat dann auch wieder damit zu tun, wo wir herkommen. Der eine kommt aus Norden, der andere aus Süden, der eine direkt aus dem Wald und der andere aus der Innenstadt. Ich habe mich gerade durch den Feierabendstau gekämpft und die andere kommt vielleicht von einem Schweigeretreat. Die Perspektiven sind vielfältig und in jeder Situation auch oft wieder verschoben.

Es ist aber gar nicht so sehr der Unwille, den anderen zu verstehen, der uns so oft aneinander krachen lässt. Es ist die Beharrlichkeit dahinter. Dieses unbedingte Rechthabenwollen. Ich weiß, dass etwas so ist, wie es ist und ich bestehe darauf, es dem anderen zu erklären. Mir geht das oft so, vor allem in Beziehungen. Vermutlich weil wir hier noch mehr die Absicht haben, immer auf der gleichen Straßenseite gehen zu müssen. Dabei ist es völlig legitim, dass wir auch mal eine zeitlang auf unterschiedlichen Seiten gehen, solange wie die nächste Ampel wieder zum Anlass nehmen, uns anzunähern und sagen können: In dieser Thematik braucht es diese beiden Fußwege hier und da. Aber grundlegend fahren wir doch beide lieber mit der U-bahn unter dieser viel zu lauten Straße entlang, oder?

Im Life Trust Coaching bei Veit Lindau ging und geht es viel darum Recht zu haben. Klar, als Coach ist es nicht hilfreich, immer Recht haben zu wollen. Wir wollen die Klient:innen ja nicht belehren, wir wollen ihnen helfen ihre Lösungswege selbst zu sehen. Wenn ich dabei nur davon ausgehe, dass die Lösung, die ich im Kopf habe, die einzig richtige ist, dann werde ich dabei nicht sehr erfolgreich sein. Es sei denn die Klient:innen himmeln mich blind an, aber wer will das in Wahrheit schon?

Es ist spannend zu beobachten wo im Leben wir versuchen immer und immer wieder Recht zu haben. Die sozialen Medien sind die Autobahn des Rechthabens. Was auf Twitter gestritten wird, nur weil einzelne Personen auf ihrem Recht beharren. Und oje, wie sehr wir uns gerade als Gesellschaft komplett spalten, weil so viele glauben, dass ihre Sicht auf die Dinge die richtige ist. Es ist traurig, wie sehr wir uns davon leiten lassen.

Und nicht selten wird aus dem Rechthabenwollen dann aus Angst und Scham eine Sackgasse, in der wir mit allen Händen und Füßen fuchteln, weil wir längst wissen, dass wir gar nicht so sehr recht hatten. Aber wir können das nicht zugeben, wir können nicht sagen: “Stimmt, das hab ich ganz anders gesehen und diese Sichtweise gar nicht in Betracht gezogen.” Das haben wir nicht gelernt.

Nicht Recht haben zu müssen ist eigentlich eine Erleichterung. Ich muss dadurch gar nicht mehr kämpfen unbedingt. Ich muss nicht ewig erklären und den Kopf schütteln. Verzweifeln oder mir die Haare raufen. Ich kann es einfach belassen. Nicht immer für immer. Aber manchmal eben einfach, bis wir eine Ampelkreuzung finden, oder eine Brücke. Oder bis zum Ende der Straße, wo sich die Wege neu fädeln.

Und ich werde jetzt den Wellensittichen hier erklären, dass ich sehr wohl Recht habe, wenn ich ihnen sage, dass sie um diese Uhrzeit viel zu laut sind. Die sind leider auch sehr beharrlich.

Schreibe einen Kommentar