Tag 36 – Freude

Sie stand im Bademantel im Wellnessbereich dieses 4-Sterne-Hotels und wollte davonlaufen. Eng aneinander gereiht standen Liegen zur Erholung. Darüber an den Wänden standen Worte wie Liebe, Glück, Leben oder Freude. Sie empfand nichts davon. Alle diese Worte ließen sie jämmerlich zusammenzucken. Oder kamen nur dumpf bei ihr an. Und hier sollte sie sich nun erholen. Sollte sich ausruhen, entspannen oder was auch immer. Tränen stiegen in ihr auf. Der Fluchtreflex zog an ihrem Arm. Doch die körperliche Unfähigkeit ließ sie weiter stehen. Mitten im Raum. Inmitten all dieser Worte und der Stille, die ihr fremd war.
“Sind die Liegen schon belegt?” fragte eine männliche Stimme hinter hier und sie zuckte zusammen. Sie hatte niemanden kommen hören und auch gar nicht daran gedacht, dass sie hier nicht allein war.
“Nein.” sagte sie.
“Ah, dann nehm ich die da hinten” sagte der Mann, der in ihrem Alter zu sein schien, nur wesentlich mehr Energie mit sich herum trug als sie selbst.
Sie wählte die Liege, die am weitesten weg stand von ihm. Legte, seinem Beispiel folgend, ein Handtuch darauf und dann sich selbst. Er zog eine Zeitung aus seiner Bademanteltasche, legte sich auf seine Liege und entfaltete das Papier. Er begann zu lesen, aber scheinbar in einem Tempo, dem eine normale Tageszeitung nicht gewachsen war. Er faltete, schüttelte, richtete sich das großformatige Papier oft minutenlang zurecht, um dann kurz über die Seiten zu fliegen, faltete dann wieder und schüttelte erneut. Sie schloss die Augen und versuchte zur Ruhe zu kommen. Es knisterte, faltete, schüttelte. Papier. Ein Wunder, dass die Zeitung überhaupt noch ein Stück war. Sie öffnete die Augen. Stille stand an der Wand und sie sehnte sich danach. Er faltete. Sie atmete. Glück? War das keines. Er räusperte sich. Ein ungewohntes Geräusch in der Abfolge seiner Geräusche. Nicht weniger unerträglich. Sie schloss wieder die Augen. Im meditativen Morgenkreis zuvor hatte sie gelernt, wie man sich in Ruhe atmen kann. Er war nicht dabei gewesen. Offensichtlich. Sie atmete. Tief ein durch die Nase, aus durch den Mund. Sie zählte ihre Atemzüge. Sie verabschiedete an einem imaginären Gartentor ihre Gedanken, die sich nicht ihrem Geist nähern sollten. Sie verabschiedete Mordgelüste an zeitungslesende Herren. Sie verabschiedete Drohbriefe an Verlagsanstalten, die großformatige Zeitungen herausbrachten. Sie verabschiedete Gedanken an geschlossene Anstalten, in denen Menschen in Beschäftigungstherapien stundenlang aus Zeitungen Origamikraniche falten mussten. Sie atmete. Der wievielte Atemzug war das? Sie öffnete die Augen. ‘Zeit’ las sie groß an der Wand und seufzte. Ja, eine schöne Zeit hätte sie hier verbringen können. Wenn da nicht jemand sitzen würde, der “Die Zeit” las. Sie gab auf. Entnervt erhob sie sich, schlang ihren Bademantel wieder um sich und wollte gehen. Dann hielt sie inne. Der Herr zerfaltete gerade die Sportsektion. Sie ging zu ihm hinüber, schaute ihn an. Er blickte auf, etwas verwirrt, dass die Frau so nah neben ihm stand. Sie nahm seine Zeitung und schneller als er reagieren konnte, faltete sie einen Hut aus der gesamten Zeitung. Er war nicht schön und perfekt gefaltet, aber gut genug. Diesen setzte sie ihm auf den Kopf, wünschte ihm einen guten Tag und ging. Ein letztes Mal drehte sie sich um und blickte auf die Wand. ‘Freude’ las sie und lächelte zufrieden.

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