Tag 76 – Stumme Wut

Sie blickte auf die Rosen, die auf dem Grab verteilt lagen. Sie wusste nicht, von wem sie waren, aber das spielte auch keine Rolle. Allein der Gedanke, dass jemand hier gewesen war, tat ihr gut.
In dem Moment spürte sie, dass jemand sie beobachtete. Sie schaute auf und drehte sich um. Hinter der Buche bei dem Grab der alten Frau Gerber stand Konrad. Seine Augen zeigten etwas zwischen Erleichterung und Ertapptsein. Er hatte auf einen guten Moment gewartet Marie gegenüberzutreten. Hatte gezögert, weil er ahnte, dass sie nicht erfreut sein würde. Marie hingegen blieb ruhig stehen. Sie spürte tief im Inneren eine Wut. Die Wut, mit der sie Konrad das letzte Mal zurückgelassen hatte. Aber auf dieser Wut schwamm eine wohlige Wärme. Eine Wärme, die sie gespürt hatte noch bevor sie sich umgedreht hatte, noch bevor sie wusste, dass es Konrad war, der sie schon eine Weile beobachtet hatte. Eine Wärme, die sie schon länger kannte. Die sie schon vor vielen Jahren immer wieder aus ihrer Kälte geholt und umarmt hatte. Damals hatte sie diese häufig aufgesucht und dankbar angenommen. Doch heute. Sie wusste nicht, ob die Wut oder die Wärme nun in ihr aufsteigen und sich in ihrem Körper ausbreiten, welches Gefühl welches verdrängen würde.
Konrad kam näher. Marie blickte ihn an und wartete. Die Wut rief von unten: „Schick ihn weg! Was soll er hier? Was fällt ihm ein?“ Doch die Wärme legte sanft ihre Hand darüber.
„Ähm, hi“ sagte Konrad und er fuhr sich dabei mit einer Hand durch sein wirres Haar, so wie er es immer tat, wenn er sonst nicht so recht wusste, was er tun oder sagen sollte.
„Hi“ sagte Marie und die Wut in ihr schrie: Schick ihn weg! Marie atmete tief durch.
Einen Moment standen sich beide gegenüber und sagten nichts. Konrad, der davon ausgegangen war, dass das Gespräch mit einem Streit darüber, was er hier tat und warum er Marie nicht in Ruhe ließ beginnen würde. Marie, die selbst nicht wusste, warum sie Konrad einfach so da stehen ließ und nichts weiter sagte oder tat.
„Ich, ähm… Naja ich wollte noch mal in Ruhe mit Dir reden“ stammelte er.
„Deshalb der Friedhof? Wegen all der Ruhe?“ Marie fand ihre Stimme wieder.
„Sorry, ich weiß es war blöd, aber…“
„Aber?“
„Aber ich hatte geahnt, dass Du mir hier nicht gleich davonlaufen würdest.“
Die Wut in Marie schrie: Er bedrängt Dich!
„Soso“ antwortete Marie.
Konrad blickte sie erstaunt an. Es war, als hätte Marie ein Codewort gesprochen und damit eine Falltür geöffnet, die jahrelang verschlossen war. Und da bemerkte sie es auch. Sie hatte das Wort ausgesprochen, dass einst wie eine heimliche Verbindung zwischen ihnen funktioniert hatte. Ein Wort, das in beide Richtungen Augenblicke auflösen konnte, Gefühle einfangen, das aber immer, ja fast immer ein Lächeln mit sich gezogen hatte. Und nun musste auch sie lächeln. Die Wut in ihr schrie und tobte. Konrad fuhr sich ein zweites Mal mit der Hand durch die Haare, dann legte sich auch ihm ein Lächeln aufs Gesicht und die Wärme in Marie hatte endgültig die Wut erstickt, die nun nur noch stumm strampelte, sich dann still ergab, als Marie Konrad eine heftige Umarmung entgegen warf.

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