Tag 96 – Luft schnappen

Er stand auf dem See und blickte hinauf ins Dorf.
“Wo willst Du hin?” hatte sie ihn vorhin gefragt.
“Luft schnappen.” hatte er geantwortet, den Schlüssel in die Tasche gesteckt und die Tür zugezogen.
Er wusste nicht, ob sie noch etwas gesagt hatte.
Der See war frisch zugefroren. Es würde noch eine Weile dauern, bis die Gemeinde ihn freigeben würde. Bis die Niederländer anreisen und ihn bevölkern würden. Ihre Runden drehen, ihre Rennen fahren. Warum ausgerechnet die Niederländer, das hatte er nie verstanden. Warum ausgerechnet hier?
Ihm war der Tourismus egal. Im Sommer kamen sie alle und schlugen ihre Zelte auf, quetschten sich auf jeden freien Quadratmeter Rasen und pinkelten in den schönen See. Im Sommer rannten sie auf Kufen darauf herum oder ließen sich von metallenen Gefährten die Hänge hinaufziehen, um dann auf Brettern hinuntern zu segeln. Alles nicht seins. Alles nicht seine Welt. Nie gewesen.
Aber jetzt stand er auf dem See und genoss die Stille. Das Eis war noch dünn, aber dick genug um ihn zu tragen. Er war ja nicht dick. Das Dorf wirkte wie ein Spielzeugland. Gleich würde die Kleinbahn aus einem Berg gefahren kommen und leise tuten. Sie kam nicht. Es blieb still. Er schaute genau und erblickte sein Haus. Die kleinen Fenster, hinter denen weiße, perfekt maßgeschneiderte Gardinen hingen. Holzmöbel, die die Zimmer dem Stil der Gegend entsprechend eingerichtet darstellten. Nicht wohnlich, aber passend. Manchmal wäre er gern zu einem der schwedischen Möbelhäuser gefahren und hätte neue Tische und Stühle geholt, vielleicht auch ein neues Bett. Aber das hätte sie nie mitgemacht, da wäre ihr vermutlich ein entrüstetet Seufzer entfahren, wie das immer geschah, wenn sie entsetzt war von einer Abweichung der Norm. Vom normalen Alltag hier in diesem Dorf.
Er ging weiter. Blickte hinauf in die Berge, auf die kahlen Stellen in den Wäldern, die ihn an seine eigene dürftige Haarpracht erinnerten. Da gab es auch so einige karge Stellen. Seitdem rasierte er sich das Haar immer kurz. Heute trug er eine Mütze. Eine blaue, die kaum die Ohren erreichte. Aber den Kopf hielt sie warm. Warm genug zumindest.
Er spürte, wie die Sonne hinter den Wolken auftauchte, eine sanfte Wärme umgab ihn. Er blickte auf um zu sehen, wie groß das Wolkenfenster war. Dabei übersah er die dünne Stelle, an der das Eis noch nicht ganz so dicht gefroren war. Es gab nach und mit einem Rutsch versank er mit dem Fuß im eiskalten Wasser. Der andere Rutsche mit und sein Körper versank. Als er wieder auftauchte rang er nach Luft. “Hilfe!” rief er. Aber seine Stimme hatte keine Kraft. “Hilfe!” versuchte er es noch einmal. Doch er war zu weit weg vom Dorf. Die Kälte raste wie eine Armee im Angriff tief in seinen Körper. Er hielt sich am Eis fest, doch seine Hände froren zu sehr, er konnte kaum greifen, hatte keine Kraft, sich hochzuziehen. Seine Füße wurden schwer, neben ihm schwamm seine blaue Mütze. Die würde seinen Kopf nun auch nicht mehr wärmen. Ein letztes Mal blickte er hinauf zu seinem Haus. “Luft schnappen” hatte er gesagt. Es waren seine letzten Worte an sie gewesen. Dann schnappte er ein letztes Mal nach Luft und ließ los.

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