Sie stand hinten an der Bar und hatte eine Hand um ihr Bierglas gelegt. Das tat sie, seitdem sie Kinder hatte. Immer eine Hand parat einen glasigen Sturz zu verhindern. Wie kommt es eigentlich, dass an einer Bar, wo so viele Gläser und Ellenbogen sich über den Tresen schieben, wo Alkohol in Menschen und dieser dann die Menschen zu ausholenden Bewegungen verleitet so wenige Gläser den Weg zum Boden finden?
Verrückt, welche Wege die Gedanken nehmen, wenn man sie mit Bier füttert, dachte sie und blickte weiter nach vorn, wo drei Musiker sich konzentriert in ihre Instrumente verloren. Wo die Sängerin vorn mit einer Hand ihr Mikrofon umschloss so wie sie hier hinten ihr Bierglas. Die Augen geschlossen bewegte sie sich sanft zur Musik ihrer Bandkollegen und malte mit ihrer Stimme Bilder aus Worten in den Raum, trug die Menge davon in ihre ganz eigene Welt.
Vertieft in die Melodien, die Bilder, die Stimme und zufrieden mit ihrer Entscheidung, den Abend allein zu verbringen in dieser Stadt, in der sie so viele Jahre nicht gewesen ist, bemerkte sie nicht, dass er sie bereits vom Eingang aus erspäht, gezweifelt, dann doch seiner Erinnerung sicher sich ihr genähert hatte. Erst, als er neben ihr an der Bar lehnte, sein Bier mit der linken Hand zum Mund führte und sie sein weißes Langarmshirt im Augenwinkel sah, erkannte sie, noch bevor sie den Kopf zur Seite drehte, wer nun neben ihr stand. Sie lächelte. Dann schaute sie ihn an. Auch er lächelte, sein Blick zur Bühne gerichtet, hatte er die Aufmerksamkeit doch ganz bei ihr. Spürte, dass sie ihn anblickte, dass sie lächelte. Fühlte diese aufregend freudige Spannung in der Luft. Sie sah sein Lächeln, sein verschmitzt, schelmisches Grinsen, dass sich unter den grauen Haaren nicht verändert hatte. Und das sie jetzt, hier, nach den vielen Jahren, die sie im Moment nicht in der Lage war zu zählen, an diesen Abend, an dem sie sowieso zufrieden war mit sich selbst, einen Funken glücklicher machte. So wie früher, wie damals. Und doch so ganz anders. Größer. Leichter. Mutiger.
Und so schauten beide nebeneinander lächelnd nach vorn, ließen ihre Gedanken fernab der Musik in die Vergangenheit reisen, besuchten beide ihre ganz eigenen und doch miteinander verstrickten Erinnerungen.
Erst als die Sängerin die letzte Silbe und die Musiker die letzten Töne in den Raum hinein geschickt hatten, wo sie in den hintersten Winkeln verhallten, schauten sie sich an, sahen sich in die Augen, schüttelten lachend den Kopf und stießen mit ihren Biergläsern an. Eine Umarmung, dachte sie, das wäre jetzt schön. Aber sie hatten sich nie umarmt, waren sich nur ganz oder gar nicht begegnet. Und so nahm sie stattdessen einen weiteren Schluck Bier aus ihrem Glas und merkte dabei nicht, dass er unbeholfen seine Arme davon abhalten musste, sie zu umarmen.