Wie jeden Donnerstag hatte sich der Alte auf der Bank nahe den Gießkannen niedergelassen. Er hatte seine braune Aktentasche geöffnet und zwei Flaschen Bier herausgeholt, aus dem vorderen Fach, in dem Früher seine Schreibutensilien steckten und heute noch ein Kugelschreiber klemmte, hatte der den Flaschenöffner gezogen und neben die Bierflaschen gelegt. Dann hatte er die Aktentasche sorgfältig geschlossen und neben sich auf die Bank gestellt. „Servus Erich!“ hatte er in die Stille hinein gesagt und nicht bemerkt, dass er den falschen Namen gesagt hatte. Denn sein Freund, mit dem er hier jeden Donnerstag Bier trank, hieß Erwin. Das war ihm in letzter Zeit öfter passiert. Aber da Erwin seit fast zwei Jahren tot unter der Erde lag, da hinten, in der Reihe gegenüber nahe dem Zaun zum Waldrand, hatte ihm das niemand gesagt. Er war ja allein hier. Wie fast jeden Donnerstagabend. Im Sommer sah er hin und wieder jemanden kommen zum Gießen am Abend, aber jetzt im Winter war es still um diese Zeit auf dem Friedhof.
Herbert öffnete erst die eine Flasche Bier, dann die andere. Die Kronkorken ließ er sorgsam in seine Jackentasche gleiten. Er zog die Mütze noch ein weniger tiefer ins Gesicht, rieb die Hände gegeneinander und hauchte hinein. Dann nahm er eine Flasche Bier in die Hand und stieß damit die andere an. „Prost Erwin!“, sagte er und nickte. Er hielt einen Moment inne, dann trank er einen langen Schluck. „Kalt ist es heute. Der Winter kommt, ich sag’s Dir. Schon zum Mittag muss ich oft einheizen.“ Wieder ließ er die Stille einen Moment sprechen, bevor er einen weiteren Schluck aus seiner Bierflasche nahm.
„Stell Dir vor Erich“, sagte er dann lachend. „Neulich bin ich aus dem Haus in meinen alten Lederpatschen. Ja wirklich, ich habe es nicht bemerkt. Erst als ich im Geschäft war, bei der alten Gudrun, da hat sie gesagt: „Herbert! Du hast ja noch Deine Puschen an!“ und ich schaue runter und tatsächlich! Da habe ich gelacht. Sie hat mich ganz schön komisch angeschaut, die Gudrun. Na weißt ja, mit dem Humor hatte sie es ja noch nie so richtig. Haha. Irgendwie ist keiner mehr da zum Lustigsein, seitdem Du nicht mehr… Ach Erwin.“ Die Stille zog nun immer kälter unter seine Mütze, in seine Jackentaschen und um die Füße herum. „Ja, kalt ist es geworden. Nicht mehr so gemütlich wie damals, unsere Bierchen.“
Früher hatten sich die Freunde jeden Donnerstag im Gasthaus „Zur lustigen Wirtin“ getroffen. Die Wirtin war aber nicht lustig, sie war auch keine Wirtin, sondern hieß Manfred und hatte meistens schlechte Laune. Zu wenig Kundschaft, zu wenig Umsatz, schlechte Politik und schlechtes Wetter. Irgendwas war immer. Aber Herbert und Erwin hatten ihn gemocht, den verkommenen Laden. Hatten dort ihre Bierchen getrunken, viel gelacht und das Leben genommen, wie es eben war. Mal laut, mal leise, aber immer lebenswert. Nach Erwins Tod hatte Herbert sich ohne Ausnahme jeden Donnerstag auf die Friedhofsbank gesetzt und mit ihm ein Bier getrunken. Wobei er seines nur getrunken, Erwins immer stehenlassen hat. Peter, der Friedhofswärter kannte das schon und hatte jeden Freitag in der Früh die Bierflasche genommen und unter der alten Eiche ausgeleert.
„Prost Erich!“ rief Herbert wieder in die Stille hinein. Er hob die Bierflasche an und hielt sie gegen den Schein der Straßenlaterne. Da bemerkte er, dass Schneeflocken leise durch die Luft tanzten. „Ach!“, rief er. „Erwin, es schneit! Ist das nicht schön!“ Er blickte nach oben und ließ die Schneeflocken auf sich zukommen. Betrachtete ihren Tanz, ihr zartes Wirbeln und Sinken. Immer mehr Schnee fiel auf den Boden, auf die Bank, die Gräber, seine Hose, seine Mütze. Herbert blieb ruhig sitzen und betrachtete das Treiben. War verzückt von dem Schauspiel, dass sich ihm bot. Er trank sein Bier und sah zu, wie sich auf dem anderen ein kleiner Schneeberg bildete. Immer stiller wurde er, je stiller die Welt um ihn herum wurde.
Wie Betten, sehen sie aus, die Gräber, dachte er und wurde müde. Um ihn herum die weiß bedeckten Hügel, aus denen die Grabsteine heraus blickten, ebenfalls von einer kleinen Haube aus Schnee bedeckt. „So friedlich, so still“ sagte er. Dann lehnte er sich zur Seite, nahm seine Aktentasche unter seinen Kopf und schloss die Augen. In der Stille des zauberhaften Schneetreibens schlief er ein.