Johannes knallte die Tür hinter sich zu und lief die Treppe hinauf. Er wusste eigentlich nicht so genau, warum er sie hinauf lief und was er da oben wollte. Er hatte nur die Wohnung verlassen wollen. Es war spät abends und er hatte keine Ahnung, was er draußen auf der Straße machen sollte. Eine Etage höher blieb er stehen und ging zum Fenster. Er blickte in den Innenhof, den das gesamte Gebäude rundherum abschloss. Niemand war zu sehen, nur ein paar Lichter brannten hier und da. Bei manchen beleuchteten Fenstern kannte er die Menschen, die dahinter wohnten. Bei anderen nicht. Er stand ans Fenster gelehnt und dachte an den Streit mit Markus, den er gerade hatte. Sein Herz raste vor Wut, er atmete heftig. Da hörte er von weiter oben Klaviermusik. Er horchte auf. Im fünften Stock wohnte nur das Pärchen, das er selten sah und Lotte, die etwas ältere alleinstehende Frau. Lotte. Er hatte hin und wieder mit ihr geplaudert. Sie war oft im Hof, goss die Blumen und nutzte die Gelegenheit mit den Nachbarn zu plaudern. Etwas, was sonst niemand tat in diesem Haus. Er fand es angenehm hin und wieder mit den Nachbarn zu plaudern, ihn bedrückte manchmal die anonyme Atmosphäre. Markus hingegen fand Lotte furchtbar anstrengend, so wie jeden, der ein paar Sätze mehr aus seinem Mund schob als er.
Ohne lange zu überlegen ging Johannes die eine Etage hinauf. Das Klaviergeklimper wurde lauter. Er ging direkt auf Lottes Tür zu und legte die Hand auf die Klingel. Das Klavier verstummte empört. Dann hörte man langsam Schritte, die auf der anderen Seite der Tür stoppten. Die Metallabdeckung des Spions wurde zur Seite geschoben, Johannes spürte das beobachtende Auge und blickte zu Boden. Dann drehte sich erst ein Schlüssel in einem Sicherheitsschloss, danach einer im normalen Schloss unter der Türklinke. Die Tür wurde geöffnet und blieb nach ungefähr zehn Zentimetern an einer Sicherheitskette hängen. Lotte schob die Tür wieder ein Stück zu, rüttelte die Kette aus ihrem Haken und öffnete die Tür weiter. „Hallo.“ sagte sie. „Ähm hallo“ antwortete Johannes, dem jetzt erst auffiel, dass er keine Ahnung hatte, was er hier eigentlich wollte. Er schaute Lotte an, die in einem großen orangenen Kleid vor ihm stand. Es war weit und locker geschnitten, schaffte es dennoch nicht, ihre überfüllige Figur zu verdecken. Lotte schien das auch nicht zu bezwecken. Sie trug ihre Figur mit Würde und das verlieh ihr eine gewisse Ausstrahlung. Ihre rotgefärbten Haare fielen wellig herab und blieben auf den Schultern liegen. Die Träger ihres BH’s bohrten sich in ihre Haut und hielten angestrengt fest, was zu halten war.
Lotte sah Johannes fragend an, Johannes blickte kurz in ihre Augen, dann auf die Tür und am Ende wieder zu Boden. „Magst Du reinkommen oder einfach nur so vor der Tür herumstehen?“ fragte Lotte. Sie schob die Tür ein Stück weiter auf und Johannes folgte ihr in die Wohnung.
Es war sehr warm und eher dunkel. Irgendwo in einer Ecke brannte ein Räucherstäbchen. Vereinzelt waren ein paar Teelichte in verzierten Haltern angezündet. Der Deckel des Klaviers stand noch offen. Auf einem Tisch in einer Ecke lagen endlos viele Zeitschriften und Papiere. An den Wänden lehnten Leinwände, manche bemalt, manche noch weiß. Es dauerte ein Weile, bis Johannes sich im Wohnzimmer zurechtfand. Lotte zog eine Wolldecke von einem Sessel und deute mit der Hand darauf. „Setz Dich“ sagte sie beiläufig. Johannes ließ sich hinein fallen und erschrak, weil er tiefer in das Polster sank als er geglaubt hatte. „Rauchst Du?“ fragte Lotte und Johannes nickte erleichtert. Er rauchte nicht viel und nicht oft. Aber gerade heute war ihm sehr danach. Lotte zog eine Packung Tabak aus der Tasche ihres Kleides und begann zu drehen. Johannes schaute ihr still dabei zu. „Was treibt Dich zu mir so spät noch? Lass mich raten. Streit?“ Lotte schaute ihn an, während sie das Tabakpapier mit ihrer Zunge befeuchtete. Johannes nickte und verdrehte die Augen. Lotte nickte mit ihm, hielt die Augen auf ihre Zigarette gerichtet. Sie zupfte ein paar Tabakfäden heraus, dann reichte sie sie Johannes hinüber. Er nahm sie dankend an und wartete, bis sie ihre fertig gedreht hatte. Lotte gab ihm Feuer, Es zischte in die abendliche Stille, Tabakfäden verglühten und beide atmeten heftig ein, dann Rauch aus. Stumm zog der Rauch Richtung Fenster und hinaus in die Abendluft. „Habt Ihr häufiger Streit seit dem… seit der Sache?“ Lotte deutete mit dem Kopf Richtung Fenster und damit Richtung Hof. Und Johannes wusste, was sie meinte. „Ja.“ sagte er und bemerkte, dass es das erste klare Worte war, was er Lotte gegenüber hier heute Abend ausgesprochen hatte. Er räusperte sich. „Ja schon irgendwie.“ Lotte nickte. Dann rauchten beide stumm weiter ihre Zigaretten. „Wie geht es Dir damit?“ fragte Johannes. Lotte seufzte. Sie deutete mit der Zigarette Richtung Klavier. „Ich spiele viel. Und male. Das lenkt mich ab.“
„Sollte ich wohl auch machen“ sagte Johannes. „Das mit dem Vergessen funktioniert ja wohl nicht.“