Tag 52 – Drachentanz

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  • Beitrag veröffentlicht:Dezember 25, 2018
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“Papa, Papa schau mal wie hoch der fliegen kann!”
Konrad blinzelte. Er sah den Drachen hoch über sich und rief “Oh wow!”, dann schloss er die Augen schnell wieder und holte sich die Bilder von eben in den Kopf. Marie und er lagen mitten im Haferfeld. Hafer war nicht das gemütlichste Getreide, in plattgetretener Gerste lag es sich besonders weich. Aber in diesem Jahr wuchs hier auf diesem Feld Hafer und so machten sie das beste draus. Mitten im Feld hatten sie sich ein großes Stück plattgetreten, was ihre Feldhütte war. Hier kamen sie nun häufig her und versteckten sich. An diesem Tag hatten sie die Drachen mitgenommen, die sie in der Schule gebaut hatten. Maries war etwas schief geraten und hoch oben sah das Gesicht, das sie auf den Drachen gemalt hatte aus, als ob er schielte. Konrad hatte sich ewig über sie lustig gemacht und sie hatten beide gelacht, bis ihnen die Bäuche weh taten. Konrads Drachen hatte kein Gesicht, er war gemustert und stand wie ein kleines Kunstwerk hoch oben in der Luft. Irgendwann hatten sie sich die Schnüre um die Handgelenke gewickelt und sich hingelegt. So konnten sie im Liegen zusehen, wie ihre Drachen da oben gemeinsam tanzten. Für einen Moment hatte Konrad es für einen Ausblick in ihre Zukunft gehalten, gehofft, dass auch sie einmal gemeinsam so leicht dahintanzen würden.
“Papa! Papaaaa! Der Drache!” Konrad blickte auf. Der Drache seines Sohnes war zu Boden gestürzt und lag im Gras. Konrad seufzte, wieder aus seinem Tagtraum gerissen und stand auf. Er wickelte die Schnur auf. So weit, bis er einfach ziehen konnte und den Drachen wieder in die Luft beförderte, wo er fröhlich aufstieg. Er reichte die Schnur seinem Sohn und blickte dem Tanz des Papierwesens am Himmel nach. Dann zupfte die Erinnerung an seinem Ärmel.
Es gab nur einmal für ihn die Möglichkeit mit Marie zu tanzen. Das war an einem wilden Abend in der Disco. Konrad hatte nie getanzt. Marie hingegen war an solchen Abenden nur schwer von der Tanzfläche wegzubekommen. An diesem Abend hatte er beschlossen, dass er etwas unternehmen musste und sei es, dass er tanzen müsse. Er war also zu ihr gegangen, als sie gerade “Clowns und Helden” spielten. Er hasste dieses Lied, in dem der Sänger ständig “Ich liebe Dich” durchs Mikrofon fetzte. Er fand es zu platt und abgedroschen, aber Marie tanzte immer dazu und sang lauthals mit. Also ging er zu ihr und tanzte ihr entgegen. Marie hatte ihn erst nicht bemerkt und als sie mitten im Tanzen den Kopf hob und ihn ansah, da wurde ihr Blick glasig und still. Mit dieser schweren Tiefe hatte er sich ganz schnell und ganz tief in Konrad hineingebohrt und er stand versteinert auf der Tanzfläche und bewegte sich keinen Schritt mehr.
“Papa! Schon wieder!” rief ihn sein Sohn und dieses Mal war er froh, aus dem Tagtraum erlöst worden zu sein.

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