Tag 68 – Neujahr


Gedankenverloren stapfte sie durch den Wald. Die Hände tief in die Taschen gestopft, hoffend, dass sie nicht stolpern würde. Dann wäre die Nase schneller im Schnee, als die Hände aus der Tasche befreit. Ihr Blick war auf ihre Füße gerichtet, die Schritt um Schritt im Schnee versanken. Die Mütze tief ins Gesicht gezogen, der Schal hoch um den Hals gewickelt. Wie eine Dampflok blies sie mit jedem Atemzug sichtbar Luft aus, die ihre Nase kurz wärmte, und beim Einatmen kühlte. Hin und wieder blieb sie stehen, sah sich um und lauschte der endlosen Stille, die der Schnee über den Waldboden gelegt hatte. Ihre Gedanken kreisten um dieses neue Jahr, dass sich gerade wie ein frisch gewaschener Teppich vor ihren Füßen ausgerollt hatte. Ideen, Ziele, Vorsätze, Visionen. Alles schwirrte verschwommen durch ihren Kopf, wurde von der kalten Luft aufgewirbelt um dann müde wieder niederzusinken.
Einen Moment blieb sie stehen, hob den Kopf und schaute sich um. Ein Paar Meter weiter blickte etwas zurück. Sie erschrak. Dann erkannte sie, dass es ein Baum war, dem ein Stück seiner Rinde fehlte. Sie ging auf den Baum zu.
„Was schaust Du so?“ fragte sie ihn. „Hast Du etwa Antworten für mich?“
Ein Windhauch rauschte durch den Wald und die Krone des Baumes raschelte sanft.
„Aha. Du hast also Antworten. Interessant.“
Sie ging ein Stück näher und legte die Arme um den Baum. Dann erzähl doch mal. Sie legte den Kopf an den Stamm und seufzte leise. Und obwohl ihr vorher noch kalt war, spürte sie eine tiefe Wärme in sich aufsteigen. Sie lächelte. All das Wirre in ihrem Kopf, das Chaos die Unruhe verschwanden. Sie lauschte dem Rauschen der Äste im Wind und der starken Sanftmut des Baumstammes. Und allmählich schoben sich die Bilder im Kopf zurecht. Aus einem Haufen kleiner Puzzleteile bildete sich ein bunt gezeichnetes Bild. Eine Weile ließ sie sich davon halten. Dann löste sie sich vorsichtig von dem Baum, streichelte den Stamm noch einmal sanft und bedankte sich.
Sie schob die Hände wieder tief in die Taschen und ging weiter. Nach ein paar Metern drehte sie sich noch um. Das vermeintliche Auge im Stamm des Baumes jedoch war verschwunden.

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