„Hast Du schon wieder welche gemacht?“
Magdalena starrte aus dem Fenster und betrachtete erneut und intensiv die Fensteranordnungen des Hauses gegenüber. Die weißen Gardinen links, mittig und rechts oben. Daneben scheinbar eine andere Wohnung, die statt Gardinen nur Vorhänge hatte, die so gut wie immer zugezogen waren. In der Reihe darunter dominierten Bambusrollos. Weiter unten wieder Gardinen in verschiedenen Mustern. Und im ersten Stock sogar ein Fenster mit Kissen, auf das sich gelegentlich ein älterer Herr presste und dabei Zigarillos rauchte. Sie kannte auch die Anordnung der Schornsteine oben auf dem Dach im Schlaf. Der Blick aus diesem Fenster war ihr in den letzten Tagen vertraut geworden.
„Warst Du heute schon draußen?“ hakte Timo sein tägliches Fragenrepertoire ab. Magdalena schüttelte zaghaft den Kopf, als wäre sie sich selbst nicht ganz sicher, ob sie heute nicht vielleicht doch draußen war. Das braune Haar hing ihr leicht über die Schultern und ruhte sich auf dem blau gestrickten um ihren Hals gewickelten Schal aus.
„Hast Du Hunger?“ Frage Nummer drei auf der Liste.
Sie schüttelte wieder den Kopf, etwas deutlicher.
Timo ging in die Küche und hantierte mit einem Messer und einem Brett herum. Kurz darauf kam er mit zwei Käsebroten zurück ins Wohnzimmer.
Bisher war Frage vier das Anbieten von Käsebrothälften gewesen, aber seine Erfahrung verriet ihm, dass es sinnlos war. Er biss hinein und betrachtete Magdalena, der Blick noch immer auf dem Gebäude gegenüber hing.
„Wir könnten noch eine Runde spazieren gehen.“ schlug er vor. Es fiel ihm nicht leicht einen normalen Tonfall in der Stimme zu behalten in all den Texten und Phrasen, die er derzeit täglich abspulte wie eine alte Hörspielkassette
Magdalena reagierte nicht.
„Ich habe heute mit der Psychologin telefoniert, die am Sonntagabend hier war.“ Damit legte er einen Satz ins Zimmer, der Magdalena erreichte. Der war neu, den kannte sie nicht und er beinhaltete das Wort Sonntagabend, das bisher ebenfalls vermieden wurde. Sie drehte den Kopf und schaute ihn an. Erst da fiel ihm auf, dass sie seit Sonntagabend ihre Augen nicht mehr gesehen hatte, ihre braunen leuchtenden Augen, die heut allerdings mattschwarz wirkten.
„Sie hat gesagt dass wir dringend alle zum Alltag übergehen sollten, um dem Trauma zu entkommen. Und dass wir uns Unterstützung holen sollen. Am besten alle, aber sie könne ja keinen zwingen. Aber sie hat mir ein paar Telefonnummern gegeben. Nur müsstest Du dafür eben die Wohnung verlassen und ich glaube auch, dass das wichtig wäre.“ Er biss erneut von seinem Käsebrot ab, um sich selbst im Redefluss zu stoppen und Magdalena Zeit zum Reagieren zu geben.
„Ich schaff das nicht.“ flüsterte Magdalena.
Er hörte auf zu kauen. Es war der erste vollständige Satz, den er von ihr in diesen Tagen gehört hatte und für einen Moment glaubte er an magische Zauberkräfte des Wortes „Psychologin“.
„Ich kann Dir doch helfen“, versuchte er das sprechende Rad am Laufen zu halten.
„In kleinen Schritten. Aber Du kannst doch jetzt wirklich nicht ewig hier in der Wohnung bleiben.“
Tränen rannen aus ihren Augen hastig die Wangen hinunter.
„Ich werde die Bilder nicht los“ flüsterte sie.
„Ich weiß,“ antwortete Timo. Und tatsächlich hatte dieser Satz mal etwas Wahres und war nicht irgendeine Verständnis heuchelnde Floskel. Denn auch in seinem Kopf kreisten Tag und Nacht die Bilder des vergangenen Sonntagabend. Als sie von einem schrillen Schreien und Lachen erschreckt aufgesprungen und ins Stiegenhaus gelaufen waren. So wie die meisten anderen Nachbarn auch. Von dort aus in den Hof, nachdem sie alle etwas hinunterfallen gesehen hatten. Wo sie dann fassungslos vor den abgetrennten Körperteilen standen, die nach einem dumpfen Aufprall auf dem Kopfsteinpflaster verteilt herum lagen. Das schrille Schreien war verstummt und man hatte einen stillen Schatten davonlaufen sehen. Doch die meisten begannen nun selbst entsetzt zu schreien oder erstarrten in schockierter Stille. Irgendwer hatte die Polizei gerufen und Stunden später standen sie noch immer im Hof, beantworteten immer wieder die gleichen Fragen, bekamen Pillen und Becher in die Hand gedrückt, um sich zu „entspannen“ und irgendwann hatte die Müdigkeit sie in ihre Wohnungen zurück gezwungen, wo sie dank der weißen Pillen tatsächlich eingeschlafen waren.
Doch am nächsten Tag waren die Bilder noch deutlich da und keiner hatte ihnen Pillen dagelassen, um weiterzuschlafen. Seitdem hatte Magdalena die Wohnung nicht mehr verlassen, verbrachte die Tage damit Steine zu bemalen und auf die Fenster und Schornsteine gegenüber zu starren. Timo hatte es pragmatisch vorgezogen ins Büro zu gehen. Seine weiße Pille hieß Arbeit, in die er sich stürzte. Aber um Magdalena machte er sich große Sorgen.