Volle Kraft voraus

2008 war ich mit meinem damaligen Partner und dessen bestem Freund auf der schottischen Insel Arran auf Radtour. Wir hatten uns vorgenommen, die relativ kleine Insel an einem Tag zu umrunden. Das ist von den Kilometern her keine große Sache. Was wir aber nicht bedacht haben, war der Wind, der auf der einen Küstenseite sehr gegen uns war. Auf der anderen hat er uns getragen. Also strampelten wir uns ihm entgegen hinauf zur Inselspitze Richtung Lochranza mit dem fixen Vorhaben, das an diesem einen Tag zu schaffen. Und ja, das ein oder andere Schimpfwort mag unterwegs meinen Mund verlassen haben. Der Wind hat darüber nur gelacht und sie alle verschluckt.

Auf dem Weg zurück flogen wir über die Straßen, dass mich hier und da vor Geschwindigkeit und Freude ein Lachanfall überkam. Ich hatte zu der Zeit keinen Tacho am Rad also weiß ich die echte Geschwindigkeit nicht, aber ich denke wir waren nahe am Schall.

Kurz vor Ende stand uns jedoch noch eine fiese Steigung bevor. Die kannten wir schon vom Vortag, weil wir sie vom Fährhafen zum Zeltplatz bezwungen haben. Ich wusste also, dass ich sie schaffen kann, dennoch fürchtete ich mich vor ihr. Denn heute hatte ich schon so einige viele Kilometer in den Knochen. Vor der Steigung ging es noch einmal bergab. Ich wusste, dass ich hier Schwung nehmen musste. Und das tat ich. Und dann legte ich alles hinein. Mein Vorteil im Gegensatz zum Vortag war immerhin, dass ich wusste, dass es die letzte Steigung war und danach das Zelt, eine Dusche und das Gefühl des „GESCHAFFT!“ auf mich warten würde. Und ich wusste auch, dass ich alles geben konnte, denn danach brauchte ich meine Reserven nicht mehr (diesen Gedanken bereute ich am nächsten Tag etwas, denn immerhin mussten wir ja auch wieder zurück radeln zum Fährhafen und der Zeltplatz lag direkt unten auf Seehöhe….)

Ich hatte also Schwung geholt und radelte was das Zeug hielt. Ich achtete auf die Gänge, nicht alle sofort aufbrauchen. Einen nach dem anderen abschalten. gleichmässig treten. Gleichmässig atmen. Sitzen bleiben, denn im Stehen verlierst du Kraft und es geht auf die Knie. Ich war voll in Fahrt und voll in meiner Energie. Ich hatte Tempo drauf und konnte es halten. Ich wusste, dass ich es halten musste, denn nur so würde ich weiterkommen. Ein wenig an Tempo verlieren konnte bedeuten, dass ich stehen blieb und dann war es aus. Klar hätte ich den Rest schieben können, so war es nicht, aber das wollte ich nicht. Dafür hatte ich nicht die restliche Insel umfahren. Nein, ich blieb dabei. Mein Partner fuhr weiter hinten, er hatte generell ein anderes Tempo. Vor mir fuhr sein Freund und ich merkte, dass ich ihn überholen musste, um mein Tempo zu halten und um die Steigung zu schaffen. Aber ich wollte nicht. Wie sah das aus? Gedanken strampelten sich durch meinen Kopf. Denkt der sich, dass ich ihm was beweisen will? Dass ich ihm zeigen will, dass ich stärker bin? Sieht es aus, als würde ich hier groß angeben wollen? Aber ich rückte immer näher auf. Ich konnte nicht langsamer werden. Langsam wäre mein sicherer Ausfall gewesen. Also setzte ich an und überholte ihn. Als ich knapp zu ihm aufgeschlossen hatte, keuchte ich ihm ein „sorry, have to keep this speed“ hinüber. ICH ENTSCHULDIGTE MICH BEI IHM FÜRS ÜBERHOLEN.

Heute, wenn ich darüber nachdenke, muss ich lächeln. Wie absurd. Als ob der sich irgendwas gedacht hätte. Als ob nicht jeder mit sich beschäftigt ist auf diesen letzten Metern bergauf, wo du im letztmöglichen Gang bist und strampelst, die letzte Kraft aus dir raus holst und weißt, gleich gleich gleich ist es geschafft.

Aber das war ich. Damals. Immer achtsam, was die anderen denken. Immer glaubend, ich würde protzen und angeben, wenn ich über mich hinaus ging. Wenn ich mich zeigte. Wenn ich mal alles aus mir raus holte. Mein ganzes Leben bestand daraus. Zurückhaltung. Still sein. Vorsichtig. Nur nicht nach vorn drängeln. Wer bin ich schon? Was kann ich schon? Was sollen denn die anderen von mir denken? Am Ende sehen sie ja doch, dass ich ein Nichts bin.

Das war ich. WAR ich.

Ich habe es so satt das gewesen zu sein. Ab heute bin ich das nicht mehr. Ich will nicht mehr still sein. Nicht mehr klein sein. Nicht mehr nichts sein.

Ab heute will ich einfach nur noch sein. Zeigen, wer ich bin. Und wer ich noch sein kann. Denn in mir steckt viel mehr. So viel mehr.

Beim Radfahren habe ich mir das immer wieder selbst bewiesen. Wenn ich an Steigungen dachte: Niemals. Sicher nicht. Und am Ende oben ankam, fix und fertig, völlig ausgebrannt mit schmerzenden Muskeln. Scheiß egal. Ich hatte es geschafft und es fühlte sich hammergeil an. Sowas von.

Ich will, dass sich mein Leben nicht nur beim Radfahren so anfühlt. Ich will, dass es sich immer öfter so anfühlt. Im Alltag, in dem, was ich tue. Und vor allem will ich mich so fühlen dürfen. Weil ich es verdient habe. Weil jede und jeder es verdient haben sich so zu fühlen. Hammergeil und so völlig in seiner eigenen Kraft. Ich weiß, dass ich es kann. Und ich werde mich so fühlen.,

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Angelika

    Oh Nadine, das kann ich so fühlen! Schluß mit dem klein machen! 🧡

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