Tag 11 – Öl auf Leinwand

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  • Beitrag veröffentlicht:November 14, 2018
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Er hatte gesagt er würde sie malen. Groß. Auf Leinwand. Mit Öl und Pinsel. Erst war sie skeptisch. Sie? Groß? Auf Leinwand? Doch dann hatte er sie überzeugt und als sie das erste Mal zu ihm kam, da fühlte sie eine Mischung aus Vorfreude und Stolz in sich. Auf dem großen Polstersessel in seinem viel zu großen Atelier hatte sie dann Platz genommen. Er hatte seinen besten Kittel angezogen und neue Pinsel besorgt. Die Leinwand stand groß und auffordernd vor ihm. Sie saß erwartungsvoll auf dem Sofa und wusste nicht, wie sie den Kopf halten, wohin sie blicken sollte. Ob sie atmen durfte? “Sei ganz natürlich”, sagte er und versteckte seine Hand, die vor Aufregung zitterte, hinter der Leinwand.
“Was ist denn natürlich?” fragte sie.
“Rede einfach mit mir”, schlug er vor.
Und das tat sie dann. Sie redete. Unaufhörlich. Er nickte hinter seiner Leinwand zustimmend. Hin und wieder fragte er nach. Und hin und wieder schaute er hinter der Leinwand hervor, um neue Details von ihr einzufangen.
“Wie sehe ich aus?”, fragte sie.
“Umwerfend, wie immer.”
Sie lachte, warf die Haare zurück und setzte ihr schüchternes Mädchengesicht auf: “Ich meine auf der Leinwand.”
“Wunderschön.” sagte er still.
“Darf ich es sehen?” fragte sie.
“Erst wenn es fertig ist.”
Sie seufzte. Dann redete sie weiter. Und während sie redete und er zuhörte, während sie herumblickte und gestikulierte, stand er still hinter seiner Leinwand und vertiefte sich in das Bild von ihr, das er erschuf. So entstand eine Verbundenheit, die sich nur hier und nur zwischen dem Sofa und der Staffelei, zwischen ihr und ihm verstrickte. Vertrautheit hatte sich eingeschlichen und beide unsichtbar miteinander verwoben.
Nach jeder Stunde drehte er sich die Staffelei zum Raum hin, so dass er sie sehen konnte, wenn er daran vorbei ging. Manchmal strich er mit der Hand über ihr Abbild.
Sie eilte jede Woche die Stufen zu seinem Atelier hinauf, roch nach Sonne und Leichtigkeit und lächelte ihm aufgeregt entgegen.
Bis zu diesem einen Mittwoch. Als sie in sein Atelier trat und sofort verstummte. Weil es kühl war darin. Kühler als sonst. Weil kein Kaffeegeruch in der Luft hing. Weil es ruhiger war. Und weil er ihr nicht wie gewohnt entgegen kam. Sie rief seinen Namen und stellte fest, dass sie das noch nie getan hatte. Er fühlte sich schwer an in ihrem Mund. Wie ein zu großer Eiswürfel, der einem beim Trinken in den Mund gefallen war. Er antwortete nicht.
Sie suchte die Räume ab, doch er war nirgends. Im Atelier standen die Bilder wie gewohnt an der Wand aufgereiht. Die Staffelei an ihrem Platz. Alles war wie sonst.

Sie zögerte. Dann ging sie langsam um die Staffelei herum. Ihr Herz schlug laut, sie schloss für einen Moment die Augen. dann blickte sie auf. Blickte sich an. In Öl. Auf Leinwand. Groß. Sie atmete schwer. Schwankte und hielt sich vor Entsetzen die Hand vor den Mund. Sie wollte schreien, aber es gelang ihr nicht.
Das Bild war perfekt gezeichnet. Jede ihrer Locken war genau dargestellt, die Narbe über ihrem rechten Auge. Doch es zeigte sie nicht hier in diesem Raum. Nicht hier auf diesem Sofa. Es zeigte sie blass und leblos. In einem Sarg.
In dem Moment hörte sie Schritte im Treppenhaus.

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