Tag 9 – Das kleine Mädchen

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  • Beitrag veröffentlicht:November 12, 2018
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Sie blätterte durch die alten Fotoalben. Das transparente Papier zwischen den Kartonseiten knisterte in ihren Händen. Die Fotos waren teilweise schräg und schief eingeklebt, manche am Rand zackig oder an den Ecken rund geschnitten. Hier und da standen Orte und Jahreszahlen darunter, um der Erinnerung immer wieder nachzuhelfen. So spazierte sie durch ihre Kindheit. Blies zum fünften Geburtstag Kerzen aus, schaukelte in Omas Garten, hielt eine große Schultüte in der Hand und sah breiverschmiert frech in die Kamera.

An der Ostsee vergrub sie die Hände im Sand. Doch dazu fehlte ihr im Moment die eigentliche Erinnerung. Sie wusste, dass sie einmal an der Ostsee Urlaub gemacht hatten, aber es war zu lange her und scheinbar weit bevor sich Erinnerungen in ihrem Kopf festhalten konnten. Sie betrachtete das Bild, sah sich, sah den weiten Sand. Lange schaute sie auf das kleine Mädchen im Kleid, dass dort vertieft seine Welt entdeckte. Dass dort unbefangen und neugierig in das Leben hinaus trat und jeden Tag als neues Abenteuer begrüßte. Ihr Blick wanderte glasig vom Foto hinaus durchs Fenster in den nebligen Tag und betrachtete still das kleine Mädchen in sich. Irgendwo tief unter ihren Erinnerungen lief es noch immer neugierig und wild umher, doch es wurde zu oft zurechtgewiesen von ihrer großen Erwachsenenversion. Das große Mädchen, die Frau, die schon zu viel wusste, zu viel erlebt hatte, sich klug und weise fühlte. Wohin hatte sie all das getragen?

Sie schloss die Augen und kniete sich vor das kleine Mädchen, schloss es in die Arme und flüsterte: “Bleib frech und wunderbar!” ins Ohr. Und das kleine Mädchen antwortete: “Du auch.”

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