Ich komme wieder

  • Beitrags-Autor:
  • Beitrag veröffentlicht:November 29, 2023
  • Beitrags-Kommentare:0 Kommentare

Als Plattenkind wurde man ja in der DDR immer etwas bemitleidet. Weil man in Betonwüsten lebte und aufwuchs. Aber ich habe das nie so empfunden. Zum einen war die Betonwüste, in der ich lebte, von Feldern und Landwirtschaft umgeben und befand sich am Rande einer schönen Fachwerkstadt, zum anderen verbrachte ich meine Ferien oft bei meinen Großeltern am Land. Dort, wo ich auch meine ersten 5 Lebensjahre gelebt habe.

Und genau in diesen schönen Garten meiner Großeltern habe ich mich neulich in der Meditation hinversetzt. Ich betrachtete den alten Kirschbaum, das Schaukelgerüst unter dem Nussbaum, erinnerte mich, wo der Kaninchenstall stand. Ich öffnete die Türen zu den alten Ställen, in denen einst mal Schweine gehalten wurden. Aber als ich Kind war, waren das nur noch zugerümpelte Räumlichkeiten, die sich für mich wie ein kleines Wunderland präsentierten. Was dort alles herumlag. Ich liebte es da drin herumzuwandern und einfach nur zu schauen. Irgendwann ging ich wie automatisch in das alte Haus meiner Großtante. Das war das Haus, das meine Eltern gebaut hatten, in dem ich die allerersten Jahre gelebt habe, bis meine Eltern sich trennten. Das Haus war mir vertraut wie mein eigenes zu Hause, ich kannte dort jeden Winkel, jedes Buch im Regal, jeden Fleck auf dem kobaltblauen Teppich im Flur. Ich erinnere mich an die Türklingel und daran, wie die Küchentür klang, wenn sie sich öffnete und schloss. Das Muster der Wachstuchdecke auf dem Küchentisch. Die herrlichen Mustertapeten. Ich spürte den Außenputz unter meinen Fingern, weil ich immer und immer mit meinen Händen darüber gestreift bin. Das tue ich heute noch überall.

Und als ich in der Küche stand, tauchte plötzlich meine Großtante vor mir auf. So, als wäre es das Normalste auf der Welt. Sie wirkte fröhlich und ganz leicht. Und ich begann bald mich zu entschuldigen. Dafür, dass ich später, in meiner Studentenzeit, nicht mehr so viel auf Besuch gekommen war. Aber sie winkte nur ab. Als wäre das alles nicht mehr relevant und sie meinte, dass das doch alles völlig normal sei, weil man mit 20 einfach andere Interessen hat. Und dann entschuldigte ich mich dafür, dass wir das Haus und Grundstück verkauft hatten. Weil es mir tatsächlich immer ein wenig weh tut, wenn ich daran denke, weil das Haus so schön war. Und mir so vertraut. Und dann schaute sie mich an und sagte: „Aber schau doch mal, wo du gerade stehst!“ Und da stand ich ja mitten in diesem schönen Haus. Konnte jeden Winkel wiederentdecken. Durch die Räume streifen, als hätte sie niemand angerührt in den letzten Jahrzehnten. Ich stand in diesem Haus und fühlte mich wohl. Für diesen einen Moment.

Ich konnte den Moment nicht festhalten und ich konnte auch damals das Haus nicht festhalten. Die Entscheidung war in dem Moment die richtige, ich habe sie ja nicht allein getroffen, sondern mit meinem Vater, vielmehr habe ich ihn dabei bestärkt. Und all das war damals die richtige Entscheidung.

Wir können im Leben nichts festhalten. Nicht die Menschen, die uns wichtig und lieb sind. Nicht die Dinge, die für uns wertvoll sind oder bedeutsam. Nicht mal uns selbst. Alles, was immer wieder zählt, ist der Moment, in dem wir sind. Jetzt. Und jetzt. Und jetzt. Aber zu wissen, dass ich in diesem Moment die Möglichkeit habe mich an einen Ort, in eine Situation, ein Gefühl hineinzuversetzen, das mir vertraut ist, das mir gut tut, wo ich mich wohl fühle, ist so heilsam, dass alles andere irrelevant wird.

Also gehe ich jetzt immer wieder an diesen Ort zurück, wandere durch den Garten, nehme meine alten Stelzen aus dem Stall und spaziere damit auf den Plattenwegen zwischen den Häusern entlang. Ich sehe die Nachbarn in ihren Gärten. Nicht immer besucht mich jemand von damals, aber manchmal eben doch und es ergeben sich wundervolle Gespräche.

Gestern habe ich erkannt, dass ich mich nirgends jemals so sicher gefühlt habe wie dort. Wenn ich im Garten war, gab es nur die Wiese, die Bäume, die Äpfel am Baum, die Kaninchen und mich. In der Ferne hörte ich die Nachbarn mit ihren Kreissägen, Rasenmähern, die nervigen Hähne und die Traktoren, die die Straße entlang tuckerten. Aber dahinter hörte meine Welt auf. Ich wusste nichts von der Welt da draußen und es spielte auch keine Rolle. Als Erwachsene haben wir selten die Möglichkeit uns so sicher und wohl zu fühlen und zufrieden damit zu sein. Dort ging das. Dort geht es jetzt wieder für mich. Ich komme jetzt öfter vorbei.

Schreibe einen Kommentar