C wie Chemie

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  • Beitrag veröffentlicht:November 27, 2023
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Chemie war wohl das Fach, von dem ich in der Schule am wenigsten verstanden habe. So sehr ich mich auch bemühte, da waren Türen im Kopf, zu denen ich den Schlüssel nicht finden konnte. Ich fuhr in Chemie meine erste Fünf auf dem Zeugnis ein und hatte hier das einzige Mal in meinem Leben Nachhilfe.

Aber auch der Nachhilfelehrer war verzweifelt mit mir. Denn er erklärte mir alles genau so, wie es meine Chemielehrerin erklärt hatte und wie es im Buch stand. Und genau das und so und auf diese Art verstand ich nichts und nullkommanix von der Ammoniaksynthese. Dieses blöde Wort schon.

Vor unserer allerersten Chemiestunde stand Frau Stock (ja, die hieß wirklich so) vor dem Chemieraum und wir dachten wohl alle nur: Das wird nicht lustig. Sie sah streng aus, körperlich und innerlich. Sie war auch streng, aber sie war im Grunde auch lustig. Aber das auf eine unterschwellige Art, die bei uns Schüler:innen nicht gleich durchkam. Aber so streng und ernst sie auch aussah, sie war die einzige Lehrerin, die mich in der Schule auf den Tod meines Bruders ansprach. Denn sie hatte die Todesanzeige in der Zeitung gelesen. Am selben Tag hatten wir einen Test bei ihr. Leise kam sie zu mir und sagte, ich müsse den Test nicht mitschreiben. Und ich hätte dieses Angebot annehmen sollen. Aber ich war wie ich war. Und bin. Und schrieb den Test. Denn ich wollte nicht auffallen. Ich wollte keine Extrawurst. Es war genug, dass ich die war mit dem toten Bruder. Ich konnte damit ja selbst nicht umgehen. Schon gar nicht damit, dass andere mich darauf ansprachen.

Und ich mochte es nicht, einen Vorzug zu bekommen. Ich mag es heute noch nicht. Ich kann es nicht leiden, wenn Autofahrer anhalten, um mich mit dem Fahrrad oder zu Fuß über die Straße zu lassen. Ich will still und leise in einer hinteren Reihe durchs Leben gehen. Ich renne nicht als erste zur nächsten offenen Kasse, egal wie schwer mein Einkauf ist. Ich halte mich zurück. Will nicht auffallen. Und damit halte ich mich im Leben immer etwas zurück. Stehe mir auch gern selbst im Weg.

Vielleicht sollte ich öfter mal sagen: “Hey, jetzt bin ich dran!” Vielleicht würde das auch mir selbst, meinem Körper, meiner Gesundheit gut tun. Aber ich tue das immer erst, wenn die rote Lampe längst flackert. Wenn die Sirenen im Kopf oder besser der Tinnitus im Ohr so laut brüllt, dass ich gar nicht mehr anders kann.

Ich bin auch oft erstaunt, wenn mich Menschen dennoch erkennen. Wenn sie mich da hinten leise stehen sehen und mir zuwinken, mich nach vorn holen, mir Dinge sagen, die ich selbst nicht glaube. Es gelingt mir immer besser, das dann auch zu sehen und nicht, wie früher oft, abzuwehren und mich wieder zu verkriechen. Ich kann mittlerweile auch vorn tanzen, mich vor 20 Physikprofessor:innen stellen und sagen, was ich von ihnen brauche, was gut läuft und was nicht. Aber danach will ich wieder zurück und meine Ruhe haben.

Ich kann heute noch die übermässige Anstrengung spüren, die ich damals empfand, als ich am Grab meines Bruders stand und die vielen Menschen uns kondolierten. Ich wollte da nicht stehen, ich wollte keine Hände schütteln und von fremden Menschen umarmt werden. Ich wollte schlafen und aus diesem Alptraum aufwachen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich diese übermässige Erschöpfung, die mich in dem Moment überkam, nie ganz abgestreift habe.

Chemie konnte ich zum Glück in der Oberstufe schnell wieder abwählen. Im Leben kann man nicht alles einfach so abwählen wie man will. Aber zumindest lerne ich mehr und mehr, wie ich mit meiner Energie umgehe. Wo ich sie abziehe und wo ich sie verstärkt hineingebe. Nämlich dahin, wo die Chemie stimmt.

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